Selbs Justiz
meisten der 196 Felder zeigten Zahlen an, daß und wie oft die entsprechende Konstellation in den letzten zwanzig Jahren in den Mannheimer Krankenanstalten aufgetreten war.
Ich suchte die Spalte ›Autotür‹ und die Zeile ›Tibiafraktur‹ auf. Im Schnittpunkt fand ich die Zahl zwei, hinten im Text die zugehörigen Anamnesen. Obwohl sie anonymisiert waren, erkannte ich in einer die von Sergej wieder. Die andere stammte aus dem Jahr 1972. Ein aufgeregter Kavalier hatte seiner Dame beim Einsteigen ins Auto geholfen und vorschnell die Tür zugeschlagen. Die Arbeit konnte nur einen Fall von Selbstverstümmelung erwähnen. Ein gescheiterter Goldschmied hatte sich mit dem versicherten und gebrochenen Daumen der rechten Hand eine goldene Nase verdienen wollen. Er hatte im Heizungskeller die rechte Hand in den Rahmen der eisernen Tür gelegt und diese mit der linken zugeschlagen. Aufgeflogen war die Sache nur, weil er, nachdem die Versicherung schon gezahlt, mit seinem Coup geprahlt hatte. Vor der Polizei gab er an, daß er sich als Kind die lockeren Milchzähne mit einem an der Türklinke einerseits, andererseits am Zahn befestigten Zwirnsfaden herausgerissen habe. Das habe ihn auf die Idee gebracht.
Die Entscheidung, Frau Mencke anzurufen und nach den Zahnextraktionsmethoden des kleinen Siegfried zu fragen, stellte ich zurück.
Gestern war ich zu müde gewesen, um mir noch ›Flashdance‹ anzusehen, den ich mir aus dem Videoverleih in der Seckenheimer Straße geholt hatte. Jetzt legte ich die Kassette ein. Danach tanzte ich unter die Dusche. Warum war ich nicht länger in Pittsburgh geblieben?
10
Haltet den Dieb
In Basel machten Judith und ich zum erstenmal halt. Wir fuhren von der Autobahn ab in die Stadt und parkten auf dem Münsterplatz. Er lag im Schnee ohne störenden weihnachtlichen Schmuck. Wir gingen die paar Schritte zum ›Café Spielmann‹, fanden einen Tisch am Fenster und hatten den Blick auf den Rhein und die Brücke mit der kleinen Kapelle in der Mitte.
»Jetzt erzähl mal ausführlich, wie du das mit Tyberg eingefädelt hast«, bat ich Judith über dem Birchermüsli, das hier besonders köstlich zubereitet wird mit viel Sahne und ohne überzählige Haferflocken.
»Als ich ihm beim Jubiläum attachiert war, hat er mich aufgefordert, falls in Locarno, bei ihm reinzuschauen. Darauf bin ich zurückgekommen, und ich habe gesagt, ich müßte meinen älteren Onkel«, sie legte begütigend ihre Hand auf meine, »chauffieren, der sich am Lago Maggiore einen Ferienalterssitz suchen will. Ich habe gleich dazu gesagt, daß er den älteren Onkel aus den Kriegsjahren kennt. Da hat er uns beide für morgen zum Tee eingeladen.« Judith war stolz auf ihren diplomatischen Schachzug. Ich hatte Bedenken.
»Schmeißt Tyberg mich nicht auf der Stelle raus, wenn er in mir den unangenehmen nationalsozialistischen Staatsanwalt erkennt? Wär’s nicht besser gewesen, ihm das ohne Umschweife zu sagen?«
»Das hab ich mir auch überlegt, aber dann hätte er den unangenehmen nationalsozialistischen Staatsanwalt vielleicht gar nicht ins Haus gelassen.«
»Und warum eigentlich älterer Onkel und nicht älterer Freund?«
»Das klingt nach Liebhaber. Ich denke, ich habe Tyberg als Frau gefallen, und vielleicht würde er mich nicht empfangen, wenn er mich in festen Händen und die auch noch dabei wüßte. Du bist ein empfindlicher Privatdetektiv.«
»Ja. Ich bin gerne bereit, die Verantwortung dafür auf mich zu nehmen, daß ich Tybergs Staatsanwalt war. Aber soll ich dann auch noch gleich gestehen, daß ich dein Liebhaber bin und nicht dein Onkel?«
»Ist das eine Frage an mich?« Sie sagte das kurz und schnippisch, holte aber gleichzeitig ihr Strickzeug raus, als wolle sie sich auf eine längere Unterredung einrichten.
Ich zündete mir eine Zigarette an. »Du hast mich immer wieder auch als Frau interessiert, und jetzt frag ich mich, ob ich für dich nur der alte Tatterer war, onkelhaft und geschlechtslos.«
»Was willst du denn jetzt? ›Ich habe mich immer wieder für dich als Frau interessiert.‹ Hast du dich in der Vergangenheit für mich interessiert, dann laß es auf sich beruhen. Interessierst du dich in der Gegenwart, dann steh dazu. Du übernimmst immer lieber die Verantwortung für die Vergangenheit als für die Gegenwart.« Zwei rechts, zwei links.
»Es macht mir keine Schwierigkeiten, dazu zu stehen, daß ich mich für dich interessiere, Judith.«
»Weißt du, Gerd, natürlich nehm ich dich als Mann
Weitere Kostenlose Bücher