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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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nicht, wo ich war. Ich hatte die Läden nicht geöffnet, und nur verhalten drang der Lärm vom Boulevard herauf in mein Zimmer. Ich duschte, putzte die Zähne, rasierte mich und zahlte. Auf dem Weg zur Gare de l’Est trank ich einen doppelten Espresso. Fünf weitere ließ ich mir in die Thermosflasche einfüllen. Meine Sweet Afton gingen zu Ende. Ich kaufte wieder eine Stange Chesterfield.
    Für die Fahrt nach Trefeuntec hatte ich sechs Stunden veranschlagt. Aber eine Stunde war vergangen, bis ich aus Paris und auf der Autobahn nach Rennes war. Es gab wenig Verkehr, die Fahrt war eintönig. Erst jetzt fiel mir auf, wie mild es war. Weihnachten im Klee, Ostern im Schnee. Ab und zu passierte ich eine Mautstation und wußte nie, ob ich jetzt zahlen oder eine Karte in Empfang nehmen mußte. Einmal fuhr ich zum Tanken raus und wunderte mich über den Benzinpreis. Die Lichter der Ortschaften wurden spärlicher, ich überlegte, ob wegen der späten Stunde oder weil das Land verlassener war. Zuerst freute ich mich über das Radio in meinem Auto. Aber ich bekam nur einen Sender klar, und nachdem ich zum drittenmal das Lied vom Angel, der durch den Room geht, gehört hatte, stellte ich ab. Manchmal wechselte der Belag der Autobahn, und die Reifen sangen ein neues Lied. Um drei, kurz hinter Rennes, wäre ich fast eingeschlafen, jedenfalls halluzinierte ich Menschen, die vor mir über die Autobahn rannten. Ich machte das Fenster auf, fuhr auf den nächsten Parkplatz, trank meine Thermosflasche leer und machte zehn Kniebeugen. Bei der Weiterfahrt dachte ich an Kortens Auftritt im Prozeß. Er hatte mit hohem Einsatz gespielt. Seine Aussage durfte Dohmke und Tyberg nicht retten, mußte aber so klingen, als wolle sie eben das, und durfte ihn dabei selbst nicht ernsthaft gefährden. Södelknecht hätte ihn fast verhaften lassen. Wie hatte Korten sich dabei gefühlt? Sicher und überlegen, weil er allen etwas vorzumachen verstand? Nein, unter Gewissensbissen wird er nicht gelitten haben. Von meinen ehemaligen Kollegen bei der Justiz kannte ich als Mittel der Vergangenheitsbewältigung beides: den Zynismus und das Gefühl, stets im Recht gewesen zu sein und nur die Pflicht getan zu haben. Ob auch für Korten die Tyberg-Affäre rückblickend dem größeren Ruhm der RCW gedient hatte?
    Als die Häuser von Carhaix-Plouguer hinter mir zurückblieben, sah ich im Rückspiegel den ersten Streifen Morgendämmerung. Noch siebzig Kilometer bis Trefeuntec. In Plonévez-Porzay hatten Bar und Bäckerei schon offen, und ich aß zwei Croissants zum Milchkaffee. Um Viertel vor acht stand ich an der Bucht von Trefeuntec. Ich war mit dem Wagen auf den von der Flut noch nassen und festen Strand gefahren. Unter grauem Himmel rollte das Meer grau an. An der Steilküste links und rechts der Bucht brach es sich mit schmutzigen Schaumkronen. Es war noch milder als in Paris, trotz des starken Westwinds, der die Wolken vor sich her trieb. Schreiende Möwen ließen sich von ihm hochtragen und stießen in steilem Sturz auf das Wasser.
    Ich machte mich auf die Suche nach Kortens Haus. Ich fuhr ein Stück ins Land zurück und kam auf einem Feldweg an die nördliche Steilküste. Mit ihren Buchten und vorgelagerten Klippen zog sie sich dahin, soweit ich sehen konnte. In der Ferne machte ich einen Umriß aus, der vom Wasserturm bis zum großen Windrad alles sein konnte. Ich stellte den Wagen hinter einem windzerzausten Schuppen ab und hielt auf den Turm zu.
    Noch ehe ich Korten sah, hatten mich seine beiden Dachshunde ausgemacht. Sie rannten mir von weitem entgegen und kläfften mich an. Dann tauchte er aus einer Senke auf. Wir waren nicht weit auseinander, aber zwischen uns lag eine Bucht, die wir umrundeten. Auf dem schmalen Pfad, der oben an der Steilküste entlangführt, gingen wir aufeinander zu.

18
Alte Freunde wie du und ich
    »Du siehst schlecht aus, mein lieber Selb. Ein paar Tage Ruhe hier werden dir guttun. Ich hatte noch nicht mit dir gerechnet. Laß uns ein paar Schritte machen. Helga richtet das Frühstück auf neun. Sie wird sich über dich freuen.« Korten hakte sich unter und schickte sich an, mit mir weiterzugehen. Er hatte einen leichten Lodenmantel an und sah entspannt aus.
    »Ich weiß jetzt alles«, sagte ich und trat zurück. Korten sah mich prüfend an. Er verstand sofort.
    »Das ist nicht einfach für dich, Gerd. Es war auch für mich nicht einfach, und ich war froh, niemanden damit belasten zu müssen.«
    Ich starrte ihn sprachlos an. Er

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