Selbs Justiz
erzählst, ändert nichts daran, daß du, Ferdinand Korten, du allein …«
»Schicksal?« Jetzt wurde er wütend. »Wir sind unser Schicksal, und ich schiebe nichts auf irgendwelche Kräfte und Mächte. Du bist’s doch, der die Sachen weder ganz noch gar nicht tut. Dohmke und Mischkey reinreiten, ja, aber wenn dann passiert, was passieren muß, kommen deine Skrupel, und du willst es nicht gesehen haben und gewesen sein. Herrgott, Gerd, werd endlich erwachsen.«
Er stapfte weiter. Der Weg war eng geworden, und ich lief hinter ihm, links die Küste, rechts eine Mauer. Dahinter die Felder. »Warum bist du gekommen?« Er drehte sich um. »Um zu sehen, ob ich dich auch umbringe? Dich runterstoße?« Fünfzig Meter unter uns schäumte das Meer.
Er lachte, wie über einen Scherz. Dann las er es in meinem Gesicht, noch bevor ich es sagte. »Ich bin gekommen, um dich umzubringen.«
»Um sie wieder lebendig zu machen?« höhnte er. »Weil du … der Täter will Richter spielen, was? Fühlst dich unschuldig mißbraucht? Was wärst du denn ohne mich, vor 1945 ohne meine Schwester und meine Eltern und danach ohne meine Hilfe? Stürz dich doch selbst hier runter, wenn du’s nicht aushältst.«
Seine Stimme überschlug sich. Ich starrte ihn an. Dann stieg das Grinsen in sein Gesicht, das ich an ihm kannte und mochte, seit wir jung waren. Es hatte mich in gemeinsame Streiche rein- und aus fatalen Situationen rausgeschmeichelt, einfühlsam, werbend, überlegen. »Mensch, Gerd, das ist ja verrückt. Zwei alte Freunde wie du und ich … Komm, laß uns frühstücken. Ich riech schon den Kaffee.« Er pfiff den Hunden.
»Nein, Ferdinand.« Er sah mich mit dem Ausdruck grenzenlosen Erstaunens an, als ich ihn mit beiden Händen vor die Brust stieß, er das Gleichgewicht verlor und mit wehendem Mantel in die Tiefe stürzte. Ich hörte keinen Schrei. Er schlug auf eine Klippe auf, ehe ihn das Meer mitnahm.
19
Ein Päckchen aus Rio
Die Hunde folgten mir bis zum Auto und rannten fröhlich kläffend neben mir her, bis ich aus dem Feldweg in die Straße einbog. Ich zitterte am ganzen Körper, und zugleich war mir leicht wie lange nicht. Auf der Straße kam mir ein Traktor entgegen. Der Bauer musterte mich. Sollte er von seiner hohen Warte aus beobachtet haben, wie ich Korten in den Tod gestoßen hatte? Ich hatte mir keine Gedanken über Zeugen gemacht. Ich sah zurück; ein anderer Traktor zog seine Furchen über ein Feld, und zwei Kinder waren mit den Rädern unterwegs. Ich fuhr nach Westen. In Pointdu-Raz überlegte ich zu bleiben – ein anonymes Weihnachtsfest in der Fremde. Aber ich fand kein Hotel, und die Steilküste sah ebenso aus wie die von Trefeuntec. Ich fuhr nach Hause. Bei Quimper geriet ich in eine Polizeikontrolle. Ich konnte mir tausendmal sagen, daß dies ein unwahrscheinlicher Ort für die Fahndung nach Kortens Mörder war, aber ich hatte beim Warten in der Schlange Angst, bis der Polizist mich weiterwinkte.
In Paris erwischte ich den Zug um elf Uhr nachts, er war leer, und ich bekam problemlos ein Schlafwagenabteil. Am ersten Weihnachtsfeiertag gegen acht Uhr war ich wieder in meiner Wohnung. Turbo begrüßte mich schmollend. Frau Weiland hatte mir die Weihnachtspost auf den Schreibtisch gelegt. Ich fand neben den kommerziellen Weihnachtswünschen eine Weihnachtskarte von Vera Müller, eine Einladung von Korten, Silvester bei ihm und Helga in der Bretagne zu verbringen, und von Brigitte ein Päckchen aus Rio mit einem indianischen Gewand. Ich nahm’s als Nachthemd und legte mich ins Bett. Um halb zwölf klingelte das Telephon.
»Fröhliche Weihnachten, Gerd. Wo steckst du denn?«
»Brigitte! Fröhliche Weihnachten.« Ich freute mich, aber mir war schwarz vor Müdigkeit und Erschöpfung.
»Du Muffel, freust du dich nicht? Ich bin wieder da.«
Ich gab mir Mühe. »Sag bloß. Ist ja toll. Seit wann?«
»Ich bin gestern früh angekommen und versuche seitdem, dich zu erreichen. Wo hast du denn gesteckt?« In ihrer Stimme lag Vorwurf.
»Ich wollte Heiligabend nicht hier sein. Mir fiel die Decke auf den Kopf.«
»Willst du Tafelspitz mit uns essen? Er steht schon auf dem Feuer.«
»Ja … Wer kommt noch?«
»Ich hab Manu mitgebracht. Du … ich freu mich so auf dich.« Sie gab mir einen Kuß durchs Telephon.
»Ich mich auch.« Ich küßte zurück.
Ich lag im Bett und fand in die Gegenwart zurück. In meine Welt, in der das Schicksal keine Dampfer fahren und keine Puppen tanzen läßt, in der kein Fundament
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