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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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vertreten.
    Die beiden rcw-Chemiker waren wegen Sabotage und eines mir nicht mehr erinnerlichen Verstoßes gegen die Rassengesetze zum Tode verurteilt worden. Tyberg gelang die Flucht, Dohmke wurde hingerichtet. Das Ganze muß Ende 1943, Anfang 1944 gewesen sein. Anfang der fünfziger Jahre war Tyberg aus den usa zurückge-kehrt, nachdem er dort sehr schnell mit einem eigenen chemischen Betrieb reüssiert hatte, trat wieder in die rcw ein und wurde bald darauf Generaldirektor.
    Ein Großteil der Zeitungsartikel galt dem Brand im März 1978. Die Presse hatte den Schaden auf vierzig Millionen Mark beziffert, keine Toten oder Verletzten gemeldet und Äußerungen der rcw wiedergegeben, nach denen das von den verbrannten Pestiziden freige-setzte Gift für den menschlichen Organismus absolut ungefährlich sei. Mich faszinieren solche Erkenntnisse der chemischen Industrie: Da vernichtet ein und dasselbe Gift den Kakerlaken, der den atomaren Holocaust aller Voraussicht nach überleben wird, und ist für uns Menschen nicht schädlicher als ein Barbecue am Holz-164
    kohlengrill. Aus dem ›Stadtstreicher‹ fand sich dazu ei-ne Dokumentation der Gruppe ›Die Chlorgrünen‹, nach der beim Brand die Sevesogifte tcdd, Hexachlo-rophen und Trichloräthylen freigesetzt worden waren.
    Zahlreiche verletzte Arbeiter seien in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in die betriebseigene Kurklinik im Lube-ron verbracht worden. Dann gab es noch eine Reihe von Kopien und Ausschnitten zu Kapitalbeteiligungen der rcw und zu einer letztlich folgenlosen Beanstan-dung des Bundeskartellamts. Es ging um die Rolle des Werks auf dem Pharma-Markt.
    Vor den Computerausdrucken saß ich lange ratlos.
    Ich fand Daten, Namen, Zahlen, Kurven und mir un-verständliche Kürzel wie bas, boe und hst. Waren das die Ausdrucke der Dateien, die Mischkey im rrz privat geführt hatte? Ich wollte mit Gremlich reden.
    Um elf fing ich an, die Telephonnummern anzurufen, die sich bei den Zuschriften auf Mischkeys Inserat be-fanden. Ich war Professor Selk von der Universität Hamburg, der den Kontakt aufgreifen wollte, den sein Kollege für das sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Forschungsprojekt angebahnt hatte. Meine Gesprächs-partner zeigten sich verblüfft; mein Kollege habe ihnen doch gesagt, daß ihre mündlichen Zeugnisse für das Forschungsprojekt nichts hergäben. Ich war irritiert; ein Anruf nach dem anderen mit demselben nichtssa-genden Ergebnis. Bei einigen bekam ich immerhin mit, daß Mischkey auf ihre Aussagen deswegen keinen Wert gelegt hatte, weil sie erst nach 1945 bei den rcw zu arbeiten begonnen hatten. Sie waren verärgert, weil mein 165
    Kollege bei einem Inserat, das gleich auf das Kriegsende abgestellt hätte, ihnen die Mühe der Zuschrift hätte ersparen können. »Unkostenerstattung hat es geheißen, kriegen wir jetzt von Ihnen unser Geld?«
    Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte es bei mir.
    »Bei dir kommt man ja nie durch. Mit welcher Frau hast du denn so lange telephoniert?« Babs wollte si-chergehen, daß ich den geplanten gemeinsamen Kon-zertbesuch am Abend nicht vergessen hatte. »Ich bringe Röschen und Georg mit. Denen hat ›Diva‹ so gut gefallen, daß sie sich Wilhelmenia Fernandez nicht entgehen lassen wollen.«
    Natürlich hatte ich’s vergessen. Und eine Windung meines Gehirns war während des Ordnerstudiums ab-geschweift und hatte die Frage einer Abendgestaltung unter Einbeziehung Brigittes hin- und hergewendet.
    Ob es noch Karten gab?
    »Um Viertel vor acht am ›Rosengarten‹? Vielleicht bringe ich noch jemanden mit.«
    »Also doch eine Frau am Telephon gewesen. Ist sie hübsch?«
    »Sie gefällt mir.«
    Es war nur noch eine Frage der Vollständigkeit, daß ich an Vera Müller in San Francisco schrieb. Es gab nichts, wonach ich sie präzise fragen konnte. Vielleicht hatte Mischkey ihr präzise Fragen gestellt, mein Brief versuchte, eben dies herauszubekommen. Ich nahm ihn und ging zur Hauptpost am Paradeplatz. Auf dem Heimweg kaufte ich fünf Dutzend Schnecken für nach dem Konzert. Für Turbo besorgte ich frische Leber; ich 166
    hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn am Vor-abend allein gelassen hatte.
    Wieder zu Hause, wollte ich mir ein Sandwich machen, mit Sardinen, Zwiebeln und Oliven. Frau Buchendorff ließ mich nicht dazu kommen. Sie hatte am Vormittag im Werk für Firner noch etwas schreiben müssen, war auf dem Heimweg durch die Zollhofstraße an den ›Traber-Pilsstuben‹ vorbeigekommen und war sich ganz sicher,

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