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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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dem Ohr gekämmt.
    Es hat nicht weh getan, ich hab nur geblutet wie eine Sau. Übermorgen hab ich den Termin beim Chirurgen.
    Der schneidet die Rißwunde glatt und macht sie wieder zusammen.«
    »Darf ich dir den anderen Ohrring rausmachen?
    Sonst hab ich Angst, ihn dir auch noch rauszureißen.«
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    »So ein Leidenschaftlicher bist du?« Sie machte ihn sich selber raus.
    »Komm, Gerhard, laß dir die Armbanduhr abma-
    chen.« Es war schön, wie sie sich über mich beugte und an meinem Arm nestelte. Ich zog sie zu mir herunter.
    Ihre Haut war glatt und duftig. »Ich bin müde«, sagte sie mit verschlafener Stimme. »Erzählst du mir eine Einschlafgeschichte?«
    Ich fühlte mich wohl. »Es war einmal ein kleiner Ra-be. Er hatte, wie alle Raben, eine Mutter.« Sie knuffte mich in die Seite. »Die Mutter war schwarz und schön.
    Sie war so schwarz, daß alle anderen Raben neben ihr grau waren, und sie war so schön, daß alle anderen neben ihr häßlich waren. Sie selbst wußte das nicht. Ihr Sohn, der kleine Rabe, sah und wußte es wohl. Er wuß-
    te noch viel mehr: daß schwarz und schön besser ist als grau und häßlich, daß Rabenväter so gut und so schlecht sind wie Rabenmütter, daß man am richtigen Ort falsch und am falschen richtig sein kann. Eines Tages, nach der Schule, flog der kleine Rabe in die Irre. Er sagte sich zwar, daß ihm nichts würde passieren können: In der einen Richtung müßte er irgendwann auf seinen Vater und in der anderen irgendwann auf seine Mutter stoßen. Trotzdem hatte er Angst. Er sah unter sich ein weites, weites Land mit kleinen Dörfern und großen glänzenden Seen. Das war putzig anzuschauen, ihm aber erschreckend unbekannt. Er flog und flog und flog …« Brigittes Atem war gleichmäßig geworden. Sie kuschelte sich noch mal in meinem Arm zurecht und begann mit leicht geöffnetem Mund leise zu schnar-161
    chen. Ich zog vorsichtig den Arm unter ihrem Kopf hervor und machte das Licht aus. Sie drehte sich auf die Seite. Ich mich auch, und wir lagen wie die Löffelchen im Besteckkasten.
    Als ich aufwachte, war es kurz nach sieben, und sie schlief noch. Ich schlich mich aus dem Schlafzimmer, schloß die Tür hinter mir, suchte und fand die Kaffee-maschine, setzte sie in Betrieb, zog Hemd und Hose an, nahm Brigittes Schlüsselbund von der Kommode und kaufte in der Langen Rötterstraße Croissants. Ich war mit dem Tablett und dem Kaffee und den Croissants an ihrem Bett, ehe sie aufwachte.
    Es war ein schönes Frühstück. Und danach auch
    schön noch mal zusammen unter der Decke. Dann
    mußte sie sich um ihre Samstagvormittagspatienten kümmern. Ich wollte sie an ihrer Massagepraxis im Collini-Center absetzen, aber sie ging lieber zu Fuß.
    Wir verabredeten nichts. Aber als wir uns vor der Haustür umarmten, konnten wir uns kaum trennen.
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    Lange ratlos
    Schon lange hatte ich keine Nacht bei einer Frau verbracht. Danach ist die Rückkehr in die eigene Wohnung wie die Rückkehr in die eigene Stadt nach den Ferien.
    Ein kurzer Schwebezustand, ehe die Normalität einen wiederhat.
    Ich machte mir einen Rheumatee, rein vorbeugend, und vertiefte mich noch mal in Mischkeys Ordner.
    Obenauf der kopierte Zeitungsartikel, der auf Mischkeys Schreibtisch gelegen, und den ich in den Ordner geschoben hatte. Ich las den dazugehörigen Festschrifts-beitrag mit dem Titel ›Die zwölf dunklen Jahre‹. Er handelte nur knapp von der Zwangsarbeit jüdischer Chemiker. Ja, es hatte sie gegeben, aber mit den jüdischen Chemikern hatten auch die rcw unter dieser Zwangssituation gelitten. Anders als bei anderen großen deutschen Unternehmen seien die Zwangsarbeiter alsbald nach dem Krieg großzügig abgefunden worden.
    Der Autor legte unter Hinweis auf Südafrika dar, daß dem modernen Industrieunternehmen jede Art von Zwangsbeschäftigungsverhältnissen wesensmäßig fremd sei. Im übrigen sei es gelungen, durch die Beschäftigung im Werk das Leiden in den Konzentrationslagern zu 163
    verringern; nachweislich sei die Uberlebensquote der rcw-Zwangsarbeiter höher gewesen als die der durch-schnittlichen kz-Population. Ausgiebig behandelte der Autor den Anteil der rcw am Widerstand, gedachte der verurteilten kommunistischen Arbeiter und schilderte eingehend den Prozeß gegen den späteren Generaldirektor Tyberg und seinen damaligen Mitarbeiter Dohmke.
    Der Prozeß kam mir wieder in Erinnerung. Ich hatte damals die Untersuchung geführt, die Anklage hatte mein Chef, Oberstaatsanwalt Södelknecht,

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