Selbs Justiz
Taschenmesser hervor und begann das Seil unter mir durchzuschneiden. »Ich muß es tun, ich muß«, dachte ich und schnitt. Kimski oder Podel stürzte in die Tiefe. Ich konnte alles zugleich sehen, rudernde Arme, immer kleiner und ferner, Milde und Spott in Kortens Augen, als wäre alles nur ein Spaß.
Jetzt konnte er mich hochziehen, und als er mich fast oben hatte, schluchzend und zerkratzt, kam wieder
»Selb, unser Seelchen«, und das Seil riß, und …
»Was ist mit Ihnen los? Wie heißen Sie übrigens?
Mein Name ist Brigitte Lauterbach.«
»Gerhard Selb. Wenn Sie kein Auto dabeihaben –
darf ich Sie nach diesem holprigen Abend mit meinem holprigen Opel nach Hause bringen?«
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»Ja, gerne. Ich hätte mir sonst ein Taxi genommen.«
Brigitte wohnte in der Max-Joseph-Straße. Aus dem Abschiedskuß auf beide Wangen wurde eine lange Um-armung.
»Magst du noch mit hochkommen, du blöder Typ?
Mit einer sterilisierten Rabenmutter?«
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8
Ein Blut für alle Tage
Während sie den Wein aus dem Eisschrank holte, stand ich mit der Unbeholfenheit des ersten Mals in ihrem Wohnzimmer. Man ist noch sensibel für das, was nicht stimmt: die Wellensittiche im Käfig, das Peanuts-Poster an der Wand, Fromm und Simmel im Regal, Roger
Whittaker auf dem Plattenteller. Nichts von alledem hatte sich Brigitte zuschulden kommen lassen. Trotzdem war die Sensibilität da – steckt sie am Ende immer nur in einem selbst?
»Darf ich mal anrufen?« rief ich in die Küche.
»Nur zu. Das Telephon steht in der obersten Kom-modenschublade.«
Ich zog die Schublade auf und wählte Philipps
Nummer. Ich mußte es achtmal klingeln lassen, bis er abnahm.
»Hallo?« Seine Stimme klang ölig.
»Philipp, Gerd am Apparat. Ich hoffe, ich störe dich.«
»Exakt, du komischer Schnüffler, du komischer. Ja, es war Blut, Blutgruppe Null, Rhesusfaktor negativ, ein Blut für alle Tage sozusagen, Alter der Probe zwischen zwei und drei Wochen. Sonst noch was? Entschuldige, 158
ich bin hier voll in Anspruch genommen. Du hast sie doch gesehen, gestern, die kleine Indonesierin im Aufzug. Sie hat ihre Freundin mitgebracht. Hier geht die Post ab.«
Brigitte war mit der Flasche und zwei Gläsern ins Zimmer gekommen, hatte eingeschenkt und mir ein Glas gebracht. Ich hatte ihr die Mithörmuschel gegeben, und Brigitte sah mich bei Philipps letzten Sätzen belustigt an.
»Kennst du jemand bei der Gerichtsmedizin in Heidelberg, Philipp?«
»Nein, sie arbeitet nicht bei der Gerichtsmedizin. Bei McDonald’s auf den Planken arbeitet sie. Wieso?«
»Ich will nicht die Blutgruppe von Big Mac, sondern von Peter Mischkey, der von der Gerichtsmedizin in Heidelberg untersucht wurde. Und ich möchte wissen, ob du die rauskriegen kannst. Darum.«
»Das muß doch nicht jetzt sein. Komm lieber vorbei, wir besprechen das morgen beim Frühstück. Aber bring dir eine mit. Ich strampel mich doch nicht ab, damit du absahnst.«
»Muß es eine Asiatin sein?«
Brigitte lachte. Ich legte den Arm um sie. Sie kuschelte sich spröde an mich.
»Nein, bei mir ist’s wie im Bordell in Mombasa, alle Rassen, alle Klassen, alle Farben, alle Sparten. Und falls du wirklich kommst, bring noch was zum Trinken mit.«
Er legte auf. Ich legte auch den anderen Arm um Brigitte. Sie lehnte sich in meinen Armen zurück und sah mich an. »Und nun?«
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»Jetzt nehmen wir die Flasche und die Gläser und die Zigaretten und die Musik mit rüber ins Schlafzimmer und legen uns ins Bett.«
Sie gab mir einen kleinen Kuß und sagte mit geschä-
miger Stimme: »Geh du schon vor, ich komme gleich.«
Sie ging ins Bad. Ich fand bei ihren Platten eine von George Winston, legte sie auf, ließ die Schlafzimmertür offen, knipste das Nachttischlämpchen an, zog mich aus und legte mich in ihr Bett. Ich genierte mich ein biß-
chen. Das Bett war breit und roch frisch. Wenn wir heute nacht nicht gut schlafen würden, wären allein wir schuld.
Brigitte kam ins Schlafzimmer, nackt, nur mit dem Ohrring im rechten und dem Pflaster am linken Ohrläppchen. Sie pfiff die Musik von George Winston mit.
Sie war ein bißchen schwer in den Hüften, hatte Brüste, die mit ihrer Größe beim besten Willen nicht umhin-konnten, sich sanft zu neigen, breite Schultern und her-vortretende Schlüsselbeine, die ihr etwas Verletzliches gaben. Sie schlüpfte unter die Decke und in meine Armbeuge.
»Was hast du am Ohr?« fragte ich.
»Och«, sie lachte verlegen, »ich habe mir beim Kämmen sozusagen den Ring aus
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