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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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und bis heute keine Antwort darauf gefunden. Immer wieder habe ich an Weismüller gedacht. Das war auch der Grund, daß ich nicht gleich nach dem Krieg zu den rcw zurück mochte. Aber ich habe keinerlei Bestätigung für diesen Gedanken gefunden. Mich hat auch lange beschäftigt, wie 309
    Weinstein seine Aussage machen konnte. Daß er sich an meinem Schreibtisch zu schaffen gemacht, in der Schublade die Manuskripte gefunden, falsch gedeutet und mich angezeigt hat, hat mich schon bestürzt. Aber seine Aussage über ein Gespräch zwischen Dohmke und mir, das nie stattgefunden hat, hat mich tief getroffen. Alles wegen ein paar Vorteilen im Lager, habe ich mich gefragt. Nun höre ich, daß er gezwungen wurde.
    Es muß furchtbar für ihn gewesen sein. Hat seine Le-bensgefährtin gewußt und gesagt, daß er mich nach dem Krieg zu kontaktieren versucht hat und ich den Kontakt verweigert habe? Ich war zu verletzt, und er war wohl zu stolz, mir im Brief von dem Druck zu schreiben, unter dem er gestanden hatte.«
    »Was wurde aus Ihren Forschungen bei den rcw,
    Herr Tyberg?«
    »Die hat Korten weitergeführt. Sie waren ohnehin das Ergebnis enger Zusammenarbeit zwischen Korten, Dohmke und mir. Wir drei hatten auch gemeinsam die Entscheidung getroffen, zunächst nur den einen Forschungsweg zu verfolgen und den anderen zurückzu-stellen. Das Ganze war eben unser Kind, das wir eifersüchtig gehätschelt und gehütet haben und an das wir niemand ranließen. Nicht einmal Weinstein hatten wir ins Vertrauen gezogen, obwohl er in unserem Team eine wichtige, wissenschaftlich fast gleichberechtigte Stellung hatte. Aber Sie wollten wissen, was aus den Forschungen geworden ist. Seit der Ölkrise frage ich mich manchmal, ob sie nicht plötzlich wieder hochaktuell werden. Treibstoffsynthese. Wir waren andere Wege 310
    gegangen als Bergius, Tropsch und Fischer, weil wir von Anfang an dem Kostenfaktor eine entscheidende Bedeutung zuerkannt hatten. Korten hat das von uns kon-zipierte Verfahren mit hohem Einsatz weiterentwickelt und zur Produktionsreife gebracht. Diese Arbeiten sind zu Recht das Fundament seines raschen Aufstiegs bei den rcw geworden, auch wenn das Verfahren nach Kriegsende nicht mehr von Bedeutung war. Korten hat es, glaube ich, trotzdem noch als das Dohmke-Korten-Tyberg-Verfahren schützen lassen.«
    »Ich weiß nicht, ob Sie ermessen können, wie es mich bedrückt, daß Dohmke damals hingerichtet wurde; und entsprechend bin ich froh, daß Ihnen damals die Flucht gelang. Es ist natürlich nur Neugier, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, wie Sie das geschafft haben?«
    »Das ist eine längere Geschichte. Ich will sie Ihnen auch erzählen, aber … Sie bleiben doch zum Abendessen? Wie wär’s danach? Ich sage Bescheid, daß der Butler das Dinner richtet und ein Feuer im Kamin macht. Und bis dahin … Spielen Sie ein Instrument, Herr Selb?«
    »Flöte, aber ich habe den ganzen Sommer und
    Herbst nie die nötige Muße gehabt.«
    Er stand auf, holte aus der Biedermeierkommode einen Flötenkasten und ließ mich ihn öffnen. »Meinen Sie, Sie können darauf spielen?« Es war eine Buffet. Ich setzte sie zusammen und spielte ein paar Läufe. Sie hatte einen herrlich weichen und doch klaren Klang, ju-belnd in der Höhe, trotz meines nach der langen Pause 311
    schlechten Ansatzes. »Sie mögen Bach? Wie wär’s mit der h-Moll-Suite?«
    Wir musizierten bis zum Abendessen, nach der hMoll-Suite noch das D-Dur-Konzert von Mozart. Er spielte sicher und ausdrucksstark. Ich mußte bei den schnellen Läufen manchmal ein bißchen mogeln. Am Ende der Stücke legte Judith jeweils das Strickzeug aus der Hand und klatschte.
    Wir aßen Ente, mit Kastanien gefüllt, dazu Klöße und Rotkraut. Der Wein war mir neu, ein fruchtiger Merlot aus dem Tessin. Am Kamin bat uns Tyberg, seine Geschichte für uns zu behalten. Demnächst werde sie publik werden, aber bis dahin sei Verschwiegenheit geboten. »Ich wartete in der Todeszelle des Bruchsaler Zuchthauses auf die Hinrichtung.« Er beschrieb die Zelle, den Alltag eines Todeskandidaten, den Klopfkon-takt mit Dohmke in der Nachbarzelle, den Morgen, an dem Dohmke geholt wurde. »Wenige Tage später wurde auch ich geholt, mitten in der Nacht. Zwei von der ss verlangten mich zur Überführung ins kz. Und dann erkannte ich im einen ss-Offizier Korten.« In derselben Nacht wurde er von Korten und dem anderen ss-Mann hinter Lörrach an die Grenze gebracht. Auf der anderen Seite erwarteten ihn zwei

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