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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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nach den Zahnextraktionsmethoden des kleinen Siegfried zu fragen, stellte ich zurück.
    Gestern war ich zu müde gewesen, um mir noch
    ›Flashdance‹ anzusehen, den ich mir aus dem Videover-leih in der Seckenheimer Straße geholt hatte. Jetzt legte ich die Kassette ein. Danach tanzte ich unter die Dusche. Warum war ich nicht länger in Pittsburgh geblieben?
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    Haltet den Dieb
    In Basel machten Judith und ich zum erstenmal halt.
    Wir fuhren von der Autobahn ab in die Stadt und park-ten auf dem Münsterplatz. Er lag im Schnee ohne stö-
    renden weihnachtlichen Schmuck. Wir gingen die paar Schritte zum ›Café Spielmann‹, fanden einen Tisch am Fenster und hatten den Blick auf den Rhein und die Brücke mit der kleinen Kapelle in der Mitte.
    »Jetzt erzähl mal ausführlich, wie du das mit Tyberg eingefädelt hast«, bat ich Judith über dem Birchermüsli, das hier besonders köstlich zubereitet wird mit viel Sahne und ohne überzählige Haferflocken.
    »Als ich ihm beim Jubiläum attachiert war, hat er mich aufgefordert, falls in Locarno, bei ihm reinzuschauen. Darauf bin ich zurückgekommen, und ich ha-be gesagt, ich müßte meinen älteren Onkel«, sie legte begütigend ihre Hand auf meine, »chauffieren, der sich am Lago Maggiore einen Ferienalterssitz suchen will.
    Ich habe gleich dazu gesagt, daß er den älteren Onkel aus den Kriegsjahren kennt. Da hat er uns beide für morgen zum Tee eingeladen.« Judith war stolz auf ihren diplomatischen Schachzug. Ich hatte Bedenken.
    »Schmeißt Tyberg mich nicht auf der Stelle raus, 300
    wenn er in mir den unangenehmen nationalsozialistischen Staatsanwalt erkennt? Wär’s nicht besser gewesen, ihm das ohne Umschweife zu sagen?«
    »Das hab ich mir auch überlegt, aber dann hätte er den unangenehmen nationalsozialistischen Staatsanwalt vielleicht gar nicht ins Haus gelassen.«
    »Und warum eigentlich älterer Onkel und nicht älterer Freund?«
    »Das klingt nach Liebhaber. Ich denke, ich habe Tyberg als Frau gefallen, und vielleicht würde er mich nicht empfangen, wenn er mich in festen Händen und die auch noch dabei wüßte. Du bist ein empfindlicher Privatdetektiv.«
    »Ja. Ich bin gerne bereit, die Verantwortung dafür auf mich zu nehmen, daß ich Tybergs Staatsanwalt war.
    Aber soll ich dann auch noch gleich gestehen, daß ich dein Liebhaber bin und nicht dein Onkel?«
    »Ist das eine Frage an mich?« Sie sagte das kurz und schnippisch, holte aber gleichzeitig ihr Strickzeug raus, als wolle sie sich auf eine längere Unterredung einrich-ten.
    Ich zündete mir eine Zigarette an. »Du hast mich immer wieder auch als Frau interessiert, und jetzt frag ich mich, ob ich für dich nur der alte Tatterer war, on-kelhaft und geschlechtslos.«
    »Was willst du denn jetzt? ›Ich habe mich immer wieder für dich als Frau interessiert.‹ Hast du dich in der Vergangenheit für mich interessiert, dann laß es auf sich beruhen. Interessierst du dich in der Gegenwart, dann steh dazu. Du übernimmst immer lieber die Ver-301
    antwortung für die Vergangenheit als für die Gegenwart.« Zwei rechts, zwei links.
    »Es macht mir keine Schwierigkeiten, dazu zu stehen, daß ich mich für dich interessiere, Judith.«
    »Weißt du, Gerd, natürlich nehm ich dich als Mann wahr, und ich mag dich auch als Mann. Das ging nie soweit, daß ich deswegen einen ersten Schritt hätte machen wollen. In den vergangenen Wochen schon gar nicht. Aber was machst du für verquälte erste Schritte, oder sollen das gar keine sein? ›Es macht mir keine Schwierigkeiten, dazu zu stehen‹, dabei macht es dir die größten Schwierigkeiten, auch nur diesen gewundenen vorsichtigen Satz rauszubringen. Komm, laß uns weiterfahren.« Sie rollte den angefangenen Pulloverärmel um die Stricknadeln und wickelte noch etwas Garn darum.
    Mir fiel nichts mehr ein. Ich fühlte mich gedemütigt.
    Bis Olten redeten wir kein Wort.
    Judith hatte im Radio das Cellokonzert von Dvorak gefunden und strickte.
    Was hatte mich eigentlich gedemütigt? Judith hatte mir ja nur um die Ohren geschlagen, was ich in den vergangenen Monaten selbst gefühlt hatte: die Unklarheit meiner Empfindungen ihr gegenüber. Aber sie hatte es so lieblos getan, ich fühlte mich durch ihr Zitieren vorgeführt und aufgespießt, ein Würstchen, das sich windet. Ich sagte ihr das bei Zofingen.
    Sie ließ das Strickzeug in den Schoß sinken und sah lange vor sich auf die Fahrbahn.
    »Ich habe das in meiner Rolle als Chefsekretärin so 302
    oft erlebt,

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