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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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Anwalt.«
    »Im Prozeß werden Sie um die psychiatrische Begut-achtung nicht herumkommen.«
    »Das wollen wir doch erst mal sehen.«
    Die Krankenschwester kam rein und brachte ein
    kleines Schälchen mit bunten Tabletten. »Die beiden roten jetzt, die gelbe vor, die blaue nach dem Essen. Wie geht’s uns denn heute?«
    Sergej hatte Tränen in den Augen, als er die Schwester ansah. »Ich kann nicht mehr, Katrin. Immer Schmerzen und nie mehr tanzen. Und jetzt will mich dieser Herr von der Versicherung zum Betrüger machen.«
    Schwester Katrin legte ihm die Hand auf die Stirn und sah mich böse an. »Sehen Sie nicht, wie Sergej leidet? Haben Sie kein Schamgefühl? Lassen Sie ihn doch in Ruhe. Es ist immer dasselbe mit den Versicherungen; erst ziehen sie einem das Geld aus der Nase, und dann quälen sie, weil sie nicht zahlen wollen.«
    Ich konnte diese Konversation nicht mehr bereichern und flüchtete. Beim Essen notierte ich Stichworte für meinen Bericht an die Vereinigten Heidelberger Versicherungen.
    Mein Fazit war weder die gezielte Selbstverstümmelung noch das bloße Mißgeschick. Ich konnte nur die Gesichtspunkte zusammenstellen, die für das eine und 320
    das andere sprachen. Falls die Versicherung nicht zahlen wollte, würde sie damit im Prozeß keinen schlechten Stand haben.
    Als ich die Straße überquerte, spritzte mich ein Auto von unten bis oben mit Schneematsch voll. Ich war schon schlecht gelaunt, als ich im Büro ankam, und die Arbeit am Bericht machte mich noch mißmutiger. Am Abend hatte ich mühsam zwei Kassetten diktiert, die ich zum Schreiben in die Tattersallstraße brachte. Auf dem Heimweg fiel mir ein, daß ich Frau Mencke noch nach den Zahnextraktionsmethoden des kleinen Siegfried hatte fragen wollen. Aber das war mich jetzt ooch Pomade.
    321
    14
    Matthäus 6 , Vers 26
    Es war eine kleine Trauergemeinde, die sich am Freitag um 14 Uhr auf dem Ludwigshafener Hauptfriedhof einfand. Eberhard, Philipp, der Prodekan der Naturwissen-schaftlichen Fakultät Heidelberg, Willys Putzfrau und ich. Der Prodekan hatte eine Rede vorbereitet, die er wegen des geringen Publikums nur unwillig vortrug.
    Wir erfuhren, daß Willy auf dem Gebiet der Käuzchen-forschung eine international anerkannte Autorität gewesen war. Und das mit Herz; im Krieg hatte er, damals Privatdozent in Hamburg, aus der brennenden Voliere des Tierparks Hagenbeck die völlig verstörte Käuz-chenfamilie geborgen. Der Pfarrer sprach über Matthäus 6, Vers 26, über die Vögel unter dem Himmel.
    Unter blauem Himmel und knirschendem Schnee ging es von der Kapelle zum Grab. Philipp und ich folgten dem Sarg als erste. Er flüsterte mir zu: »Ich muß dir mal das Photo zeigen. Ich hab’s beim Aufräumen gefunden.
    Willy und die geretteten Käuzchen, mit versengtem Haupthaar beziehungsweise Gefieder, sechs Augenpaa-re schauen erschöpft, aber glücklich in die Kamera. Mir wurde ganz warm und weh ums Herz.«
    Dann standen wir um die tiefe Grube. Es ist wie ein 322
    Auszählreim. Altersmäßig ist als nächster Eberhard und dann bin ich dran. Wenn jemand stirbt, der mir lieb ist, denke ich schon lange nicht mehr: »Ach hätte ich doch mehr und öfter …« Und wenn ein Altersge-nosse stirbt, ist mir, als sei er eben schon vorgegangen, auch wenn ich nicht sagen kann, wohin. Der Pfarrer betete das Vaterunser, und wir fielen alle ein, selbst Philipp, der hartgesottenste Atheist, den ich kenne, sprach laut mit. Dann warf jeder von uns sein Schäufel-chen Erde ins Grab, und der Pfarrer gab uns allen die Hand. Ein junges Bürschchen, aber überzeugt und überzeugend. Philipp mußte danach gleich zurück in den Dienst.
    »Ihr kommt doch heute abend zum Leichenschmaus zu mir.« Ich hatte gestern in der Stadt für den Weihnachtsbaum noch zwölf kleine Sardinendosen gekauft und die Fischlein in eine Escabeche-Soße eingelegt. Da-zu würde es Weißbrot und Rioja geben. Wir verabredeten uns für acht Uhr.
    Philipp stürmte davon, Eberhard machte beim Prodekan die Honneurs, und die Putzfrau, die immer noch herzergreifend schluchzte, führte der Pfarrer sanft am Arm zum Ausgang. Ich hatte Zeit und schlenderte langsam über die Friedhofswege. Wenn Klara hier gelegen hätte, hätte ich sie jetzt besuchen und ein bißchen Zwie-sprache mit ihr halten wollen.
    »Herr Selb!« Ich drehte mich um und erkannte Frau Schmalz, mit kleiner Hacke und Gießkanne. »Ich gehe gerade zum Familiengrab, wo jetzt auch Heinrichs Urne ruht. Es ist schön geworden, das Grab, kommen

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