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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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Aus-scheiden bei den rcw erzählte. Und ebenso verblüffte mich Tybergs Reaktion. Er war weder skeptisch, was Judiths Darstellung anging, noch empört über irgendei-306
    nen der Beteiligten, von Mischkey bis Korten, noch äu-
    ßerte er Mitleid oder Bedauern. Er nahm einfach aufmerksam zur Kenntnis, was Judith berichtete.
    Zum Tee trug der Butler Patisserie auf. Wir saßen in einer großen Halle mit Flügel, die Tyberg Musikzim-mer nannte. Das Gespräch hatte sich der wirtschaftlichen Situation zugewandt. Judith jonglierte mit Kapital und Arbeit, Input und Output, Außenhandelsbilanz und Bruttosozialprodukt. Tyberg und ich trafen uns in der These von der Balkanisierung der Bundesrepublik Deutschland. Er stimmte mir so rasch zu, daß ich zuerst fürchtete, er habe mich falsch verstanden und meine, es gebe zu viele Türken. Aber auch er hatte im Sinn, daß die Züge immer seltener und unpünktlicher fahren, die Post immer weniger und unzuverlässiger arbeitet und die Polizei immer dreister wird.
    »Ja«, meinte er nachdenklich, »es gibt auch so viele Vorschriften, daß die Beamten selbst sie nicht mehr ernst nehmen, sondern nach Lust und Laune mal
    streng, mal lax und mal auch gar nicht anwenden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Bakschisch die Lust und die Laune regiert. Ich überlege mir oft, welcher Typus von Industriegesellschaft daraus entstehen wird. Die postdemokratische Feudalbürokratie?«
    Ich liebe solche Gespräche. Leider interessieren Philipp, auch wenn er manchmal ein Buch liest, letztlich nur die Frauen, und Eberhards Horizont geht über die vierundsechzig Felder nicht hinaus. Willy hatte in gro-
    ßen evolutionären Perspektiven gedacht und mit dem Gedanken geliebäugelt, daß die Welt oder was die Men-307
    schen von ihr übriglassen im nächsten Äon von den Vögeln übernommen werden würde.
    Tyberg musterte mich lange. »Natürlich. Als Frau Buchendorffs Onkel müssen Sie nicht auch Buchendorff heißen. Sie sind der pensionierte Staatsanwalt Dr.
    Selb.«
    »Nicht pensioniert, 1945 ausgeschieden.«
    »Ausgeschieden worden, vermute ich«, sagte Tyberg.
    Ich mochte mich nicht erklären. Judith sah es mir an und sprang ein. »Gegangen worden will noch nicht viel heißen. Die meisten sind wiedergekommen. Das ist Onkel Gerd nicht, nicht weil er nicht hätte können, sondern weil er nicht mehr wollte.«
    Tyberg sah mich weiter forschend an. Mir war nicht wohl in meiner Haut. Was sagt man, wenn man jemandem gegenübersitzt, den man mit fehlerhaften Ermittlungen fast zur Hinrichtung gebracht hat? Tyberg wollte mehr wissen. »Sie wollten also nach 1945 nicht mehr Staatsanwalt sein. Das interessiert mich. Was waren Ihre Gründe?«
    »Als ich Judith das einmal zu erklären versucht habe, meinte sie, meine Gründe seien eher ästhetischer als moralischer Natur gewesen. Mich hat angewidert, welche Haltung meine Kollegen bei und nach der Wiedereinstellung zeigten, das Fehlen jeglichen Bewußtseins der eigenen Schuld. Gut, ich hätte mich in anderer Haltung und mit dem Bewußtsein der Schuld wieder einstellen lassen können. Aber ich hätte mich damit als Außenseiter gefühlt, und dann wollte ich lieber richtig draußen bleiben.«
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    »Je länger Sie mir gegenübersitzen, desto deutlicher sehe ich Sie als jungen Staatsanwalt wieder vor mir. Na-türlich haben Sie sich verändert. Aber Ihre blauen Augen blitzen noch immer, gucken nur verschmitzter, und wo Sie den Krater im Kinn haben, da war früher schon ein Grübchen. Was haben Sie sich damals eigentlich gedacht, als Sie Dohmke und mich in die Pfanne gehauen haben? Ich habe mich gerade neulich bei meinen Erinnerungen mit dem Prozeß beschäftigt.«
    »Auch mir ist der Prozeß erst unlängst wieder lebendig geworden. Deswegen bin ich auch froh, mit Ihnen reden zu können. Ich bin in San Francisco mit der Le-bensgefährtin des damaligen Belastungszeugen Professor Weinstein zusammengetroffen und habe erfahren, daß seine Aussage falsch war. Jemand vom Werk und jemand von der ss haben ihn unter Druck gesetzt. Haben Sie eine Vermutung oder wissen Sie vielleicht sogar, wer bei den rcw damals ein Interesse an Dohmkes und Ihrem Verschwinden gehabt haben könnte? Wissen Sie, derart als Werkzeug unbekannter Interessen miß-
    braucht worden zu sein, macht mir zu schaffen.«
    Auf ein Klingeln Tybergs kam der Butler, räumte ab und servierte Sherry. Tyberg saß mit gerunzelter Stirn und sah ins Leere. »Das habe ich in der Untersuchungshaft zu überlegen begonnen

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