Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
auf das museale Nordkorea haben sich alle Gesellschaften der Erde dem Konsumismus zugewendet, und in dem sind alle Menschen gleich. Ihre Beglückung regelt ein anonymer Markt, und wenn auf diesem einige besser und andere schlechter davonkommen, so liegt das an den ewigen Gesetzen von Angebot und Nachfrage, nicht an historisch gewachsener Ungleichheit, an Machtvorsprüngen und -nachteilen, an Diskriminierung oder Gewalt und Unterdrückung.
Deshalb werden Arme auch nicht als Feinde betrachtet, sondern als Konsumenten in spe. Der Konsumismus kennt keine Feinde, weil sein Erfolg davon abhängt, dass alle mitmachen. Er ist unpolitisch und bietet daher politisch auch kein identifizierbares Ziel. Regierungen können schlecht, korrupt, verbrecherisch sein: Dann sind sie, siehe Bahrain, durch Oppositionelle angreifbar und verletzlich. Der universale Konsumismus ist dagegen wertneutral, objektiv, robust. Ihn anzugreifen kommt einem Angriff auf sich selbst gleich. Daher werden die letzten weißen Flecken auf der Weltkarte des totalitären Konsumismus bald verschwinden.
Wachstumsreligion
Als vor mehr als zweihundert Jahren die Nutzung fossiler Energien die erste industrielle Revolution einzuläuten und damit ungeheure Produktivitätsfortschritte zu ermöglichen begann, hatte die Weltkarte noch weit überwiegend weiße Flächen – Länder, die sich noch nicht in Industriegesellschaften verwandelt hatten, sondern vielmehr die gigantischen storehouses of matter (Isaac Newton), die scheinbar unerschöpflichen Rohstofflager für die Zivilisationsmaschine bildeten, die in England, Deutschland, Frankreich und Nordamerika angeworfen worden war und die sich durch einen prinzipiell unstillbaren Hunger nach Energie und Material auszeichnete. Tatsächlich beruht das Prinzip der Wachstumswirtschaft auf der Vorstellung, dass Ressourcen unendlich verfügbar sind. Diese Vorstellung speiste sich einerseits aus der beeindruckenden Steigerung der Produktivität, die unendliche Wachstumsmöglichkeiten an Mehrwert, Gütermengen, Wohlstand suggerierte, und andererseits aus der tatsächlichen Verfügbarkeit eines kompletten Planeten für die Bedürfnisse eines kleinen Teils seiner Bewohner. Kein Mensch in der westlichen Hemisphäre konnte sich ernsthaft vorstellen, dass diese riesige Erde nicht genug Rohmaterial für die Veredelungstechniken eines kleinen Teils der Menschheit und nicht genug Deponien für ihren Abfall vorhalten könnte.
Die Sache wurde etwas brisanter, als man in den 1960er Jahren zu bemerken begann, dass selbst in dieser Größenrelation Umweltschäden anzurichten waren, die hinsichtlich ihrer Langfristwirkungen gar nicht so leicht zu korrigieren waren – da befand sich die frühindustrialisierte Welt schon in der steilen Kurve der Exponentialfunktion des allumfassenden Wachstums. Die erwachende Umweltbewegung in den Industrienationen ab den 1960er Jahren richtete sich zunächst gegen die unabsehbaren Folgen der chemischen Verschmutzung von Flüssen und Böden einerseits und die sichtbare Zerstörung von scheinbar unberührter Natur andererseits. Das Konkurrenzsystem, der stalinistische Ostblock, war in seinem Umgang mit den Naturressourcen noch weniger skrupulös als der Westen, zumal es dort nicht einmal das Moment der öffentlichen Kontrolle gab und man von vielen wirklich radikalen Zerstörungen allenfalls gerüchteweise hörte. [31]
Gerade die Systemkonkurrenz war aber ein Wachstumstreiber par excellence, mussten sich die beiden Systeme doch gegenseitig in ihren Leistungen übertreffen, um ihre historische Überlegenheit unter Beweis zu stellen. Gemessen an der Unendlichkeit der ansonsten noch verfügbaren Welt schien die industrielle Zerstörungswut gleichwohl keine irreversiblen Schäden anrichten zu können. Ein Gefühl dafür entstand erst durch Bilder vom »blauen Planeten«, wie sie von Apollo-Raumkapseln aus geschossen wurden. Sie zeigten die totale, unaufhebbare Begrenztheit des Lebensraums Erde an, ein verletzlicher Planet in der Weite des Raumes.
Aber die Ästhetik der Verletzlichkeit erwies sich als schwacher Gegner des konsumistischen Freiheitsbegriffs: Als der Ostblock so unspektakulär zusammengebrochen war, als hätte die Geschichte bloß einen Furz gelassen, startete die Globalisierung in Form der Universalisierung der kapitalistischen Wachstumswirtschaft richtig durch – und bis heute bringt sie eine so heillose Übernutzung der verfügbaren Überlebensressourcen mit sich, dass absehbar ist, dass
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