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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Welzer
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eines der zahllosen Gesetze, die das Sozialverhalten regeln, ohne dass es einem im Normalfall bewusst würde und vor allem: ohne dass man es jemals bewusst gelernt hätte. Die soziale Welt ist voll von solchen Regeln – von der angemessenen Lautstärke beim Sprechen über das Nicht-Anblicken im Fahrstuhl bis hin zu Normen des Sich-Anstellens in Menschenschlangen. Wie folgenreich solche Regeln des Alltagshandelns werden können, erschließt sich etwa daran, dass relativ mehr Briten als Amerikaner unter den Opfern des Untergangs der Titanic waren, weil Erstere aus Höflichkeit dazu neigten, anderen den Vortritt in das Rettungsboot zu lassen. Soziale Konventionen sorgen dafür, dass Menschen eher in Kauf nehmen, in einem Haus zu verbrennen, als ohne Hose auf die Straße zu laufen (wie Stanley Milgram einmal formuliert hat), oder dass harmlos gemeinte Gesten als tödliche Beleidigung aufgefasst werden, wenn sie im falschen kulturellen Rahmen gebraucht werden.
    Die Welt, in der man aufwächst, ist die Welt, wie sie ist. Ihre Textur bildet die kulturelle und soziale Grundierung unserer jeweiligen Existenz, und ihre Regeln sind gerade deshalb so wirksam und wirklichkeitsbestimmend, weil sie praktisch nie Gegenstand bewusster Reflexion werden. Was einem nicht bewusst ist, kann man auch nicht kritisieren oder in Zweifel ziehen.
    Die sozialen Regeln des Alltagslebens bilden aber keineswegs den einzigen unbewussten Hintergrund unserer Orientierungen und Erwartungen. Insbesondere moderne Gesellschaften sind bis in die Tiefe strukturiert durch institutionelle Verregelungen und Infrastrukturen jeglicher Art. Die assumptive world , in der man lebt, prägt nicht nur Wahrnehmungen und gibt Deutungen vor, sondern legt einem damit zugleich kulturelle Verpflichtungen auf und stellt Bindungen her, die gleichfalls unbewusst bleiben. Jede Kultur stattet ihre Mitglieder mit Verhaltens-, Erwartungs- und Gefühlstandards aus, die ihre Wirksamkeit gerade daraus beziehen, dass man sich gewöhnlich nie Rechenschaft über sie abgelegt hat. Daher erreichen Bemühungen um die Veränderung solcher Standards überhaupt nichts, wenn sie nur auf der kognitiven Ebene ansetzen – also dort, wo etwas der Erfahrung bewusst zugänglich ist. Die Prägung meiner Zukunftsgewissheit durch »Micky Maus« und »hobby« ist ja ebenfalls kein bewusstes Ergebnis kognitiver Operationen, sondern verlief im Wesentlichen als ein emotionaler Aneignungsprozess. Deshalb kann ich mich bis heute auch nicht der Faszination »schöner« Autos, Motorräder oder Flugzeuge entziehen.
    Weil Habitusprägungen jenseits der Bewusstseinsschwelle verlaufen, bleibt es in der Regel auch erfolglos, an »Einsicht« und »Vernunft« zu appellieren. Die Welt funktioniert kantianisch nur in dem schmalen Ausschnitt, den das wache Bewusstsein erfasst; Einsicht dringt meist nicht bis zum Verhalten vor, weil das Verhalten nicht auf Einsicht beruht. So einfach ist das.

Mentale Infrastrukturen
    Vor diesem Hintergrund wird klar, dass es nicht nur materielle und institutionelle Infrastrukturen gibt, die unsere Existenz prägen und unsere Entscheidungen anleiten, sondern auch mentale. Anders gesagt: Das meiste von dem, was wir wahrnehmen, deuten und tun, entzieht sich dem Bereich des Bewusstseins. Das ist »tiefe Industrialisierung« – ein Verhältnis zur sozialen und physikalischen Welt, das durch die Veränderungen in den Produktions- und Reproduktionsweisen der letzten zweihundert Jahre geprägt wurde. Der notwendige Umbau nicht nur der materiellen und institutionellen, sondern eben auch der mentalen Infrastrukturen muss das in Rechnung stellen – es handelt sich hier nicht einfach um ein kognitives Problem, das mit Aufklärung und Einsicht zu lösen wäre, sondern um die Trägheit von Geschichte und Lebenswelt. Und wie wir alle wissen, hinken Gewohnheiten und Routinen dem besseren Wissen oft hinterher und halten einen mit zäher Beharrlichkeit fest im stabilen Gefüge der assumptive world und der zu ihr gehörigen kulturellen Bindungen.
    Dies ist exakt der Punkt, an dem Aufklärung an ihre Grenze stößt und immer gestoßen ist: Sie erreicht nämlich lediglich den kognitiven Teil unseres Orientierungsapparats; der weitaus größere Teil unserer Orientierungen, der über Routinen, Deutungsmuster und unbewusste Referenzen – soziologisch gesprochen: über den Habitus – organisiert ist, bleibt davon völlig unberührt. Wäre das anders, würde ich selbst noch viel seltener fliegen,

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