Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
sie in zwei, drei Jahrzehnten ihre eigenen Funktionsvoraussetzungen zerstört haben wird.
Eine solche Wirtschaft ist zutiefst unökonomisch, denn um sich am Leben zu erhalten, verbraucht sie immer mehr Material für die Herstellung von immer mehr und immer aufwendigeren Gütern für immer mehr Menschen mit immer mehr Ansprüchen. Um das absehbare Ende dieses Prozesses ignorieren zu können, muss man, einem bekannten Aperçu zufolge, entweder verrückt oder Ökonom sein. Aber wahrscheinlich ist exakt damit das Problem beschrieben: Heute sind ja nicht mehr nur Hans-Werner Sinn und seine kongenialen Kollegen aus den Wirtschaftswissenschaften souveräne Verächter des Wirklichen, sondern so ziemlich alle Bewohnerinnen und Bewohner der konsumistisch eingehegten Welt. Nur Verrückte können ja glauben, dass es in einer physikalisch begrenzten Entität von allem immer mehr geben könnte.
Aber die Geschichte lehrt, dass Wahrheit eine Funktion sozialer Übereinstimmung ist und Menschen auch noch die absurdesten Dinge glauben, vorausgesetzt, dass alle sie glauben. Robert Solow, Nobelpreisträger für Wirtschaft 1974, vertrat allen Ernstes die Theorie, dass die Menschheit ohne natürliche Ressourcen auskommen könne, sein volkswirtschaftlicher Kollege Julian Simon teilte 1984 mit, dass man von weiteren sieben Milliarden Jahren Wirtschaftswachstum ausgehen könne. [32] Der Soziologe William Thomas hat zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ein berühmtes Diktum formuliert: Wenn Menschen etwas für wirklich halten, dann ist es in seinen Folgen wirklich. Eine Überzeugung kann also völlig haltlos oder phantastisch sein – wenn man auf der Grundlage dieser Überzeugung handelt, schafft diese Handlung gleichwohl Wirklichkeit. Quod erat demonstrandum: Bis heute ignorieren die meisten ökonomischen Theorien sowohl die Limitierungen als auch die Eigenlogik der Naturverhältnisse. Die kommen in ihrer Welt lediglich als Rohstofflager vor.
Die Folge des zeitgenössischen Aberglaubens, unbegrenztes Wachstum sei möglich, weil es nötig ist, damit die Wirtschaft floriert, lässt sich am Bild des Earth-Overshoot-Day veranschaulichen. Diesem liegt die Überlegung zugrunde, dass man dann nachhaltig wirtschaftet, wenn man den Ressourcenverbrauch pro Jahr so einteilt, dass die rechnerisch verfügbare Menge nach 365 Tagen verbraucht ist, man am 1. Januar des Folgejahres also wieder dieselbe Menge zur Verfügung hat: Die Formel ist
Seit so gemessen wird, fällt der Tag, an dem die Ressourcen verbraucht sind, immer früher ins Jahr: 2011 war es der 27. September, 2012 der 21. August. Auf diese anschauliche Weise wird nicht nur klar, dass die Übernutzungsrate wächst, sondern auch die Geschwindigkeit der Steigerung der Übernutzung: Der Tag wandert von Jahr zu Jahr schneller weiter nach vorn, so dass die Verdoppelung des jährlichen Verbrauchs in einer viel kürzeren Zeitspanne erreicht sein wird als zum Beispiel die Marke einer 150-prozentigen Übernutzung. Übernutzung ist kein von einem Moment auf den anderen geschehendes Ereignis, sondern ein schleichender Prozess.
Aber wie kann es eigentlich sein, dass man mehr verbraucht, als zur Verfügung steht? Ganz einfach: Das, was man jetzt übernutzt, fehlt denen, die es später brauchen. Je mehr übernutzt wird, desto weniger wächst nach oder anders gesagt: Die gegenwärtigen Verbraucher, also Sie, sind Kreditnehmer, die ihre Schulden zur Begleichung an ihre Kinder weiterreichen. Wenn sich das Prinzip der Wachstumswirtschaft über die Welt ausbreitet, heißt das, dass man nicht mehr – wie zu Zeiten der europäischen und nordamerikanischen Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert – in den Raum expandieren kann, um den Treibstoff für den Antrieb der Zivilisationsmaschine von außen zu holen. Als einzige Ressource zur Erzeugung globalen Mehrwerts verbleibt nur die Zukunft. Die Kultur des ALLES IMMER verbraucht die Zukunft derjenigen, die das Pech hatten, später geboren zu sein als Sie.
Dass Sie relativ gelassen mit diesem moralisch zutiefst verstörenden Sachverhalt umgehen können, liegt wahrscheinlich daran, dass Sie daran gewöhnt sind, Ihre Konsumbedürfnisse auf Kosten anderer zu befriedigen. Oder hatten Sie im Ernst gedacht, dass niemand betrogen würde, wenn Sie ein T-Shirt für 4,95 Euro kaufen oder einen All-Inclusive-Urlaub in der Dominikanischen Republik für 799 Euro buchen?
Das ist auch alles nichts Neues. Neu ist nur: Sie betrügen jetzt nicht mehr nur
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