Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
die anderen, irgendwo da draußen in der Welt, sondern inzwischen auch Ihre eigenen Leute – Ihre Kinder, Nichten, Neffen, Enkel und wer nach Ihnen noch so kommt. Und damit auch sich selbst, denn so schlecht wollten Sie ja nie sein.
Warum Sie immer noch glauben, anders zu sein, als Sie sind
Wahrscheinlich haben Sie auch die meiste Zeit Ihres Lebens geglaubt, Teil einer im Großen und Ganzen guten Welt zu sein, einer besseren jedenfalls als die meisten der anderen da draußen, in Asien, Afrika oder sonst wo. Das glauben die meisten Menschen in diesen anderen Ländern allerdings auch, weshalb es auch von daher eine irrtümliche Annahme ist, irgendjemand, sei es ein Chinese oder eine Inderin, wollte so sein »wie wir«. Nein, sie wollen natürlich so sein wie sie selbst, aber nach Möglichkeit besser leben als jetzt. Das Kulturmodell, das dafür eine Perspektive liefert, ist, wie gesagt, dasselbe, dem »wir« nachstreben. Aber wie sich dieses Streben jeweils mit der Geschichte und Tradition der jeweiligen Gesellschaften verbindet und sich in Strategien übersetzt, fällt höchst differenziert aus. Selbst wenn Kulturen sich in wirtschaftlicher und konsumistischer Hinsicht entdifferenzieren, bleiben doch Eigentümlichkeiten in den Mentalitäten und im Habitus ihrer Mitglieder erhalten.
Ethnologie und Anthropologie haben eine Fülle von Material zusammengetragen, das auf unterschiedliche Art und Weise Auskunft darüber gibt, dass Menschen in ihren Wahrnehmungen, Deutungen und Schlussfolgerungen nicht nur von physiologischen und physikalischen Faktoren geleitet werden, sondern von den kulturellen Mustern, in denen sie gelernt haben, ihre Welt wahrzunehmen, zu deuten und in ihr zu handeln. Diese kulturelle Prägung von Welt und Selbst reicht von so überraschenden Befunden wie dem, dass sich ein autobiographisches Gedächtnis bei Asiaten später entwickelt als bei Westeuropäern oder dass japanische Babys erst erlernen müssen, dass »l« und »r« eine unterschiedliche Lautung haben, [33] bis zu dem nicht weniger verblüffenden Sachverhalt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen in den reichen Gesellschaften seit 1840 um sagenhafte 40 Jahre gestiegen ist (und sich damit in etwa verdoppelt hat, während sie in manchen Teilen Afrikas auch heute nur bei rund 40 Jahren liegt).
Warum scheinen die ersten beiden Befunde überraschender als der dritte? Weil der dritte zu »unseren« kulturellen Erwartungen gehört und die meisten Leserinnen und Leser dieses Buches davon ausgehen, dass ihr erwartbares Lebensalter die 39 Jahre locker überschreitet, die sie andernorts oder zu anderen Zeiten hätten erwarten dürfen. Gesellschaften entwickeln sich nicht nur ungleich, sondern auch ungleichzeitig. Das jeweils existierende Universum des Erwartbaren wird einem aber nur dann bewusst, wenn der stetige Fluss der Ereignisse durch abrupte, radikale Veränderungen unterbrochen wird. Wenn man einen Krieg erlebt, ein verlustreiches Erdbeben, eine nukleare Katastrophe – irgendetwas, das den kontinuierlichen Verlauf der Lebens unterbricht – ist das Erwartbare nicht eingetreten, und erst das macht klar, wovon man eigentlich immer ausgegangen war. Das Universum des Erwartbaren, die »assumptive world«, wie der Phänomenologe Alfred Schütz das genannt hat, besteht aus Voraussetzungen, die einem gerade deshalb nicht bewusst werden, weil sie von Beginn eines individuellen Lebens an die Welt definieren, in der man ist und zu der man gehört.
Die Textur der Erwartungen an die Welt
Der amerikanische Soziologe Harold Garfinkel hat mit seinen Studierenden in den 1960er Jahren eine wissenschaftliche Schule entwickelt, die er mit dem Namen »Ethnomethodology« versehen (und ihre Popularität damit nachhaltig verhindert) hat. Ethnomethodologie befasst sich mit den Grundregeln unseres Alltagslebens und -handelns. Worin diese bestehen, können Sie leicht ausprobieren, indem Sie beispielsweise in einem Gespräch im Zugabteil oder an der Hotelbar langsam, aber konsequent beginnen, den Abstand zwischen der Nase Ihres Gegenübers und Ihrer eigenen zu verringern. Sobald Sie eine bestimmte Distanz, sagen wir 30 bis 35 Zentimeter, unterschreiten, werden Sie bemerken, dass Ihr Gesprächspartner höchst beunruhigt sein wird, und wenn Sie ihm noch näher kommen, wird sich auch Ihre eigene Aufgeregtheit beträchtlich steigern. Ihr Puls wird sich beschleunigen, Ihre Handflächen werden feucht werden. Sie verletzen nämlich gerade
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