Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
und sich letztlich für Bad Griesbach entschieden. Dort war sie in der Kurverwaltung vorstellig geworden: »Ich bräuchte einen privaten Bademeister, einen, der nur mir das Schwimmen beibringt.«
»Warum nehmen Sie nicht am Gruppenunterricht teil? Das ist weitaus billiger«, hatte die freundliche Dame in der Information vorgeschlagen und nach Prospekten gesucht.
Wie hätte Malwine ausgerechnet dieser jungen Frau erklären sollen, dass sie einmal in ihrem Leben etwas ganz für sich allein haben wollte?
»Naa«, hatte die achtundsechzigjährige Kleinöder Bäuerin deshalb furchtlos klargestellt, tief Luft geholt und dann nachdrücklich den Kopf geschüttelt. »Ich will einen Lehrer nur für mich allein.«
»Darf es auch eine Lehrerin sein?«
Und auch an dieser Stelle war Malwine sich treu geblieben und hatte standhaft auf ihrem innigsten Wunsch beharrt: »Wenn’s eh so teuer ist, nehm ich doch lieber einen Mann.«
Ihr ganz persönlicher Bademeister war achtundvierzig Jahre alt und trug sein Haar so kurz geschoren, dass man meinen konnte, er habe eine Glatze. An seinem linken Ohrläppchen baumelte ein sicherheitsnadelähnliches Schmuckstück mit zwei Perlen: einer blauen und einer weißen. Die Nationalfarben der Bayern. Ihr Schwimmlehrer hatte kein Gramm Fett am Körper, und jedes Mal, wenn sie ihn sah, dachte sie, dass sie ihm mal ihr selbstgebackenes Brot mitbringen sollte, dick mit Griebenschmalz bestrichen, vergaß es dann aber immer wieder.
Jeden Montag und Mittwoch brachte er ihr zwischen zwölf und vierzehn Uhr das Schwimmen bei. Sie hatte zwanzig Doppelstunden gebucht, was genau fünf Wochen entsprach. Anschließend würde sie ihren Lehrer feierlich um ein Zeugnis bitten. »Heutzutage ist man ohne Nachweise und Qualifikationen nichts wert«, hatte neulich jemand im Radio gesagt.
Doch bis zur Zeugnisausstellung stieg der Bademeister zu ihr ins Becken, legte ihr eine Hand unter den Bauch und eine auf den Po (»Nicht das Kreuz durchdrücken!«) und achtete darauf, dass seine nicht mehr ganz junge Schülerin Arme und Beine synchron und rhythmisch bewegte. Er lobte sie und zeigte sich begeistert angesichts ihrer Lernbereitschaft und ihres Talents. »Wenn Sie als Kind schon schwimmen gelernt hätten, Sie wären besser gewesen als die kleine van Almsick, Olympiasiegerin wären Sie geworden, Schwimmweltmeisterin! Die erste Goldmedaille für Niederbayern!«, hatte er sogar einmal behauptet.
Malwine verehrte ihn.
Brust- und Rückenschwimmen hatte er ihr schon beigebracht, nun standen noch Kraulen und Schmetterlingsstil auf dem Programm.
Ihr Leben lang hatte sie es vermutet, und nun durfte sie es am eigenen Leib erfahren: Schwimmen war wie Fliegen. Und engelgleich flog sie durch das wunderbar warme Wasser der Therme von Bad Griesbach, und fast immer gehörte das große Becken ihr allein – ihr und ihrem Bademeister.
Erst in diesem Sommer, erst nach dem Tod ihrer Schwester Agnes, war Malwine das ungeheuerliche Ausmaß ihrer Freiheit bewusst geworden, und sie begann zu begreifen, dass alle vorangegangenen Abschiede notwendig gewesen waren, damit sie, Malwine, einen Neuanfang wagen konnte.
Nach dem Tod ihres Mannes und ihres Sohns waren nur sie und ihre Schwester Agnes Harbinger übrig geblieben. Agnes war nie verheiratet gewesen, zog ihr linkes Bein nach und verfügte über die Fähigkeit, Dinge vorherzusagen, Heilungen zu vollziehen und Wunder zu vollbringen. Das zumindest behauptete die Schwester des Pfarrers, die akribisch jedes Handauflegen und jede Weissagung der Harbinger Agnes in ihrem Notizbüchlein festgehalten hatte.
Diese Dokumentationen hatten aber auch zur Folge gehabt, dass Martha Moosthenninger sich ständig auf dem Hof der Brunnerin herumtrieb, mit erhabenem Eifer notierte, wie deren Schwester Agnes die Welt verbesserte und anreisende Besucher tröstete, heilte und in eine rosige Zukunft entließ. Fast ein Jahr lang hatte die Schwester des Pfarrers empfangsdamengleich vor dem Ordinationszimmer der Wunderheilerin gesessen und von angereisten Patienten Namen, Daten und Beschwerden, egal ob körperlicher oder seelischer Art, erfragt und zwischendurch Malwine Befehle erteilt, was und wie viel sie zu kochen habe.
»Koch halt gleich für mich und meinen Bruder mit, der Herr wird’s dir danken – außerdem bleibt dann meine Küche sauber«, pflegte sie zu sagen, und Malwine hatte lange gebraucht, bis sie es gewagt hatte, dem einmal zu widersprechen.
Ihre unausgesprochene Angst, die Sintflut oder
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