Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
nahm die Lampe in beide Hände und ließ den Lichtstrahl systematisch über die Wände wandern. Danach nahm sie sich die Decke vor, so gründlich, wie das von der Tür aus möglich war, und schließlich ließ sie den Strahl im Zickzack über den Boden gleiten.
Der Raum war vollständig leer. Nicht einmal ein Holzscheit lag hier herum, nur ein paar Abfälle berichteten davon, daß dieser Schuppen einst seinem ursprünglichen Zweck gedient hatte. Das schien lange her zu sein. Nachdem sie jeden Quadratmeter mit dem Lichtstrahl abgetastet hatte, trat sie noch einmal ins Innere, wobei sie sorgfältig darauf achtete, nur ihre eigenen Fußstapfen zu benutzen. Eine Handbewegung verhinderte, daß der Kollege ihr folgte. In der Mitte des an die fünfzehn Quadratmeter großen Raumes ging sie in die Hocke. Der Lichtstrahl fiel in ungefähr einem Meter Höhe auf die Wand gegenüber. Von der Tür aus war ihr etwas aufgefallen, möglicherweise Buchstaben, Zeichen im Blut, das verlaufen war, was die Deutung erschwerte.
Es waren keine Buchstaben. Es waren Zahlen. Acht Ziffern. Soweit sie sehen konnte, stand dort 910 43 576. Die 9 war undeutlich und hätte auch eine 4 sein können. Die letzte Ziffer sah aus wie eine 6, sicher war sie sich jedoch nicht. Vielleicht war es auch eine 8. Sie erhob sich und ging noch einmal rückwärts hinaus ins Tageslicht, das sich nun endgültig durchgesetzt hatte. Aus einem offenen Fenster im zweiten Stock hörte sie ein Baby weinen, und ihr schauderte bei dem Gedanken, daß Kinder in solchen Vierteln wohnen mußten. Ein Pakistani in Straßenbahneruniform kam aus der Mietskaserne und musterte Hanne und die anderen neugierig; dann fiel ihm offenbar ein, daß er es eilig hatte, und er trabte durch den Torweg davon. In den Fenstern ganz oben zeigten Reflexe, daß die Sonne inzwischen ein gutes Stück gestiegen war. Die Vögel, die kleinen, grauen, die das harte Leben im innersten Kern der Innenstadt eisern durchhielten, zwitscherten probeweise aus einer halbtoten Birke, die vergeblich versuchte, sich zu den Streifen von Morgenlicht hochzustrecken.
»O verdammt, das muß ja ein Verbrechen sein!« sagte der junge Polizist und spuckte aus – ein vergeblicher Versuch, sich vom Kloakengeschmack zu befreien. »Hier war ja wohl der Bär los!«
Dieser Gedanke schien ihn glücklich zu stimmen.
»O ja«, sagte Hanne Wilhelmsen leise. »Natürlich kann hier etwas Schlimmes passiert sein. Aber bis auf weiteres …«
Sie unterbrach sich und drehte sich zu ihrem Kollegen um. »Bis auf weiteres ist das hier kein Verbrechen. Dazu brauchten wir ein Opfer. Und von dem gibt’s bisher keine Spur. Das hier ist höchstens Vandalismus. Aber …« Wieder blickte sie in den Schuppen. »Natürlich können wir noch etwas finden. Ruf mal die Spurensicherung. Besser, wir gehen auf Nummer Sicher.«
Sie fröstelte leicht. Eher beim Gedanken daran, was sich hinter dem Anblick von eben verstecken konnte, als wegen der frischen Morgenluft. Sie zog die Jacke dichter um sich. Dann bedankte sie sich noch einmal bei dem Zahnlosen für seinen Anruf und ging allein die dreihundert Meter zum Polizeigebäude zurück. Als sie die Straßenseite wechselte und in die Reichweite des Morgenlichtes geriet, wurde es wärmer. Morgengrüße auf Urdu, Pandschabi und Arabisch schallten auf internationale Frauenweise um die Ecke. Ein Kioskbesitzer startete ohne Rücksicht auf Kirchzeit oder Öffnungsbestimmungen einen neuen langen Arbeitstag und hatte seinen Krimskrams schon auf dem Bürgersteig aufgestapelt. Er bleckte freundlich seine weißen Zähne, hielt Hanne eine Apfelsine hin und hob fragend die Augenbrauen. Einige halbwüchsige Bengels schepperten mit ihren Zeitungskarren den Straßenrand entlang. Zwei verschleierte Frauen eilten niedergeschlagenen Blicks irgendeinem Ziel entgegen. Ansonsten waren wenig Menschen unterwegs. Bei diesem Wetter erhielt sogar Tøyen eine gewisse versöhnliche, fast schon charmante Prägung.
Es schien wirklich noch ein schöner Tag zu werden.
MONTAG, 10. MAI
»Was in aller Welt hattest du denn am Wochenende beim Job zu suchen? Findest du nicht, daß wir auch so schon genug malochen müssen?«
Polizeiadjutant Håkon Sand stand in der Tür. Er trug neue Jeans und ausnahmsweise einmal Jackett und Schlips. Das Jackett war ein wenig zu groß, der Schlips eine Spur zu breit, aber er sah trotzdem ganz brauchbar aus. Abgesehen von der Länge der Jeans. Hanne Wilhelmsen konnte sich nicht zurückhalten; sie hockte
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