Semmlers Deal
Sie verstand nun nicht, warum sie sich unter dem sagenhaft erfolgreichen Semmler immer eine Art Gnom vorgestellt hatte. Er sah auch nicht böse aus ... aber er war natürlich auch ein Idiot. Wie ihr Mann. Nur konnte er es sich leisten. Ihr Mann konnte es sich nicht leisten. Und sie auch nicht. Idiot zu sein, muss man sich leisten können. Wie eine Jacht.
Schulfreunde. Das traf es genau. Zwei Viertklässler, die irgendeinen Blödsinn veranstaltet hatten. Heimlich geraucht in einer Scheune. Jetzt war die Scheune abgebrannt. Kein böser Wille dabei, keine Absicht. Nur Dummheit. Bei Viertklässlern konnte man nur seufzen und den Schaden bezahlen.Bei zwei erwachsenen Männern ging das nicht, das Seufzen nicht und nicht das Bezahlen.
Ursula hatte ein großes Problem: Ihr Mann war ein Idiot. Sie hatte von ihrem Mann nie so gedacht. Jetzt kam ihr das Wort ein ums andere Mal in den Sinn, sie musste sich zusammenreißen, dass es ihr nicht von den Lippen ging; das würde auch noch kommen, aber jetzt war es zu früh. Sie musste sich und Karin retten. Sie schwammen beide in der gefährlichen Brandung, keinen Boden unter den Füßen, eine tückische Strömung hatte sie abgetrieben, sie und ihre Tochter, ein kleines Stück nur, das Ufer war nah ... aber wenn sie jetzt einen Fehler machte, die Kräfte falsch einteilte, in die falsche Richtung schwamm, würden sie beide ertrinken, sie und ihre Tochter. Und die war das einzige, was sie hatte. Das einzige.
Das wurde ihr nun klar. Die beiden Männer redeten vor ihr, spielten sich auf, suchten sie zu gewinnen. Die Viertklässler eine erwachsene Frau. Wären die Umstände nicht so trist gewesen, hätte sie darüber gelacht. Würde sie auch noch. Später vielleicht einmal. Jetzt war keine Zeit, jetzt musste sie aus der Brandung raus. Das Wichtigste: nicht in Panik zu verfallen.
Die Frau dachte an ganz andere Dinge als die, über die hier von den Männern gesprochen wurde. Das spürte Semmler. Die verehrungswürdige Ursula war nicht mehr da. An Semmler, das spürte er auch, verschwendete sie keinen Gedanken.An ihren Mann auch nicht, ein kleiner Trost. Er sah diese Dinge in leuchtender Klarheit vor sich, aber alles nur negativ: er wusste, woran sie nicht dachte, was sie kalt ließ. Er wusste aber nicht, woran sie dachte, wie sie dachte, wo ihre Präferenzen lagen.
Er durfte jetzt die Verbindung nicht abreißen lassen. Alles deutete darauf hin, dass genau dies geschehen würde, in ein oder zwei Minuten. Sie würde sich verabschieden und gehen. Er würde sie nicht wieder sehen. Das kam nicht in Frage, weil er dann nämlich sterben würde. Daher würde er, um einen furchtbaren Tod zu vermeiden, in ihr Haus einbrechen, nur um sie zu sehen. Man würde ihn verhaften und einsperren, worauf ihm nur noch der Ausweg blieb, sich in der Zelle an einem abgerissenen Hemdenärmel aufzuhängen, keine verlockenden Aussichten. Er sah alles scharf vor sich. Nein, so würde es nicht laufen. Er durfte sie jetzt nur nicht gehen lassen. Also lud er sie zum Essen in sein Haus ein, beide natürlich – um weitere Details zu besprechen. Was für Details? Sie sahen ihn erstaunt an. Das einzige, was sie noch verband, begriff er, war dieses Erstaunen. Nun, sie hätten doch wohl nicht gedacht, dass er seinen Schulfreund Koslowski und seine liebenswerte Frau einfach so ihrem Schicksal überließe? Das sei kränkend, wenn sie etwa so von ihm gedacht hätten, so einer sei er nicht, der jemanden einfach absaufen lasse, Koslowski könne das doch bezeugen, oder?
Koslowski konnte. Er sah jetzt besser aus. Er glaubte jedes Wort, das aus Semmlers Mund kam. Er erzählte noch einmal die Rettung der Frau aus der Ach, fügte aber hinzu, von »Absaufen« könne in seinem Fall keine Rede sein; es war peinlich, seinen jämmerlichen Lügen zuzuhören, Semmler blickte Ursula an und sie schaute zurück, ruhig und offen. Ein offener Blick. Der erste offene Blick. Noch ließ sich nichts daraus lesen. Aber Ursula hatte ihn nun wahrgenommen, anerkannt, dass er existierte, in derselben Welt vorkam, die auch sie bewohnte. Das war besser als nichts undunendlich viel besser als die kalte Negation, die er am Anfang von ihr gespürt hatte.
Ob nun zwanzigtausend oder nur zweitausend, sagte er, oder sogar zweihunderttausend, ein Verlust ist ein Verlust und damit nicht tragbar. Verluste seien nicht tragbar, wiederholte Semmler, er hasse Verluste, gleich, ob er sie selber erlitte oder ein anderer; jeder Verlust sei ihm widerlich wie eine
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