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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Menschen, nicht mit Ursula, Semmler oder Karin. Sondern nur noch mit dir.
    Also hatte er zugestimmt.
     
    U rsula sah nicht mehr gut aus. Nicht einfach verweint, auch nicht verheult, sondern in einem nicht genauer bestimmbaren Stadium emotionaler und körperlicher Auflösung. Das Gesicht eine rote, verquollene Maske, unter der er seine Frau nicht erkannte. Auch die Person hatte sich verändert, die Stimme ein hohes Wimmern, ständig von Schluchzern bedroht; sie weinte mit kurzen Unterbrechungen den ganzen Tag. In diesen Unterbrechungen machte sie ihm Vorwürfe wegen seiner Untätigkeit.
    Warten auf einen Anruf erweckt nicht den Eindruck besonderer Aktivität; da sie die vorsichtige Erwähnung der Polizei mit einem hysterischen Ausbruch beantwortet hatte, blieb unklar, was »tun« in dieser Lage bedeuten sollte. Warten, bis die Entführer anriefen. Und keine Polizei! Es konnte nicht mehr lang so weitergehen, das wusste er. Weil er es nicht aushielt. Seine Frau verwandelte sich vor seinen Augen in ein scheußliches Etwas, zwar menschlich, aber das war auch schon alles, was man Gutes darüber sagen konnte. Er wollte die Ursula zurück, in die er sich beim ersten Anblick verliebt hatte. Karin natürlich auch, das war schon klar: der Prozess des Wieder-in-Ordnung-Kommens konnte allein mit dem Auftauchen einer unversehrten Karin starten, mit nichts sonst. Die Alternative konnte er sich nicht vorstellen, drängte den Gedanken zurück. Es kam nicht in Frage, dass die Sache schief ging.
    Leider sah es aber immer mehr danach aus. Die Entführermeldeten sich nicht. Nicht am ersten, zweiten, nicht am dritten Tag. Er hatte keine Ahnung, was das bedeuten konnte. Vielleicht eine bestimmte Taktik, vielleicht aber nur ein bestimmter Modus einer spezifischen Entführungskultur; was wusste er schon davon? Die Polizei hätte ihn aufgeklärt, die hatten Spezialisten und die berufliche Erfahrung, aber Polizei kam nicht in Frage.
    Bei all dem blieb Semmler so ruhig, dass er sich zuerst selber darüber wunderte. Seine Schwäche waren die Nerven, das war ihm bewusst – unter anderen Umständen hätte er sie längst weggeschmissen, die Nerven, und eine wahrscheinlich sinnlose Aktion gesetzt. Zur Polizei laufen, weglaufen, Ursula erschlagen, irgendwas ohne positiven Einfluss auf die Geschicke auch nur eines Beteiligten – aber seine eigene Lage hätte sich geändert, radikal. Dass er das nicht tat, lag an den Umständen. Er wusste, er würde aus allem herauskommen, wenn er nur wollte. Von allen Menschen (mit Ausnahme der Mießgang) war er der einzige, der eine Escape-Taste zur Verfügung hatte. Es war schweineteuer, diese Taste zu drücken, aber es war möglich – er konnte raus, wann immer er wollte. Er hatte keinen Beweis, dass es auch diesmal funktionieren würde, nur die Erfahrung, dass es bis jetzt dreimal funktioniert hatte. Das reichte ihm, und so hatte er im Grunde seines Herzens einen Rest köstlicher Ruhe, wie sie nur die Überzeugung hervorbringt, durch ein absolut irrationales Prinzip geschützt zu sein. Gegen die Wahrscheinlichkeit, den gemeinen Menschenverstand, gegen die Wissenschaft.
    Das Opfer.
    Er konnte es vermasseln, darüber war er sich klar. Durch Knauserei, darin bestand die einzige Gefahr. Es gab nichts,was er fordern konnte, wenn nur das angebotene Opfer groß genug war. Do ut des. Nicht auf die absolute Größe kam es dabei an, sondern auf die relative. Das Opfer musste nicht für das Universum groß sein – das wäre auch lächerlich, weil neben der Größe des Universums jedes menschliche Opfer zu einem Nichts zusammensinkt, sondern für ihn musste es groß genug sein; vor allem aber in einem angemessenen Verhältnis zu früheren Opfern stehen. Da konnte man leicht einen Fehler machen, das durfte er nicht riskieren.
    Irgendwo musste er die Nummer dieser Mießgang haben. Im Organizer war sie nicht verzeichnet, im Notizbuch auch nicht. Dann fiel ihm ein, dass er sie nicht bekommen hatte. Im Telefonbuch stand sie nicht. Er fuhr hin.
    Gisela Mießgang wunderte sich nicht, ihn zu sehen. Sie öffnete die Tür, musterte ihn mit kurzem Blick, und mit dem leisen »Komm rein«, das sie von sich gab, wandte sie sich schon wieder ins Innere der Wohnung. Er trat ein, machte die Tür hinter sich zu. Das Chaos war so wie vor Monaten, nicht weniger, aber auch nicht schlimmer; es kam ihm so vor, als sei er in eben jener Nacht gerade gegangen und nach zehn Minuten wieder gekommen, um einen vergessenen Schlüsselbund zu holen.

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