Semmlers Deal
wie die eines Menschen aussehen, der den Verstand verloren hatte ...
Er hörte die Eingangstür, Ursula kam. Er hörte sie durch die offenen Türen in dem winzigen Vorzimmer herumkramen, was dauerte so lang, das fragte er sich jedes Mal, wenn sie heimkam, einen Mantel an die Garderobe zu hängen, eine Handtasche hinzustellen, konnte doch keine fünf Minuten in Anspruch nehmen? In Wahrheit waren es keine fünf Minuten, nicht einmal zwei, es kam ihm nur so vor, und das wusste er auch; er wollte sie sehen, wenn sie kam, sofort. Sie kam auf ihn zu, lächelte, er stand auf, trat vom Balkon ins Zimmer, umarmte sie, drückte sie an sich.
»Wie war dein Tag?«, fragte er dann. Es war das erste, was er nach ihrer Heimkehr sagte, jeden Abend. Dann erzählte sie. Nicht immer. Meistens. Manchmal wechselte sie auch das Thema, stellte eine Gegenfrage. Heute war so ein Tag.
»Warum sitzt du auf dem Balkon? Es ist doch schon Oktober ...«
»Es ist warm, der ganze Tag war warm, es war herrlich in der Sonne ...«
»... aber jetzt ist schon lang Schatten. Und kühl, was sag ich, das ist richtig kalt, sogar hier drin.« Sie räumte das Tischchen ab, schloss die Tür, ging mit dem Kaffeegeschirr in die Küche.
»Frische Luft ist schon gesund«, fuhr sie fort, »aber du weißt doch genau, dass du empfindlich bist – dann liegst du wieder wochenlang mit einer Grippe ...«
»Das war nur eine Erkältung, keine Grippe.«
»Da hast du recht, aber gelegen bist du trotzdem, drei Wochen, hab ich nicht recht, Mausebär?« Sie wandte sich ihm zu, lächelte, ihr Gesicht strahlte, von innen, wie ihm vorkam. Er wollte etwas erwidern, sie kam ihm zuvor und sagte: »Außerdem kostet es, die Heizung läuft ja schon drei Wochen.«
Die gute Laune verflog. Sie hatte recht mit der Heizung. Es gab nur zwei Probleme. Erstens Geld. Jede Erwähnung von Geld oder Dingen, die Geld kosteten, brachte ihn auf. Das hatte er ihr offen gestanden, das wusste sie. Zweitens Mausebär . Er konnte das idiotische Kosewort nicht leiden; das hatte er ihr nicht gesagt, davon konnte sie nichts wissen. Wenn sie nun von Geld anfing, um ihn zu ärgern – sollte dann der Mausebär den Angriff abschwächen? Angriff und Rückzug in einem; Beleidigung und Besänftigung? Ihr war nicht bewusst, was sie da tat, sicher nicht. Also brachte es nichts, sie auf das doppelbödige Reden anzusprechen. Aber warum tat sie das, was war der Grund?
Er musste zugeben, dass sich Abende dieser Art in letzter Zeit häuften. Schweigen breitete sich aus, was einen Beobachter von außen noch nicht beunruhigt hätte; es herrschte keine feindselige Spannung, die auch einem Unbeteiligten aufgefallen wäre. Beide gingen ihren kleinen Beschäftigungennach, um das Abendessen vorzubereiten, meistens wurde kalt gegessen, ab und zu eine Wurst heiß gemacht. Er deckte den Tisch, sie richtete die Lebensmittel her. Eigentlich, dachte er an diesem Abend, könnte ich das machen. Ihm fiel zum ersten Mal seit dem Absturz auf, dass sie den größeren Teil dieser abendlichen Verrichtungen übernommen hatte. Wurst, Käse, Brot Aufschneiden, saure Gurken und Peperoni in Schälchen anrichten, darauf legte sie Wert – auf den Gebrauch dieser Schälchen – das war jetzt auch keine Arbeit, die jemanden belasten konnte, auch nicht nach acht Stunden Büro. Aber vielleicht ging es ihr darum, dass es jeden Tag so war; vielleicht war diese kleine Zusatzarbeit nach dem Ende der großen Berufsarbeit ja nur der Tropfen, der ein internes Fass überlaufen ließ.
»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte er. »Von heute an mach ich das Abendessen, ganz mein ich, du brauchst dich nur noch an den gedeckten Tisch zu setzen.«
»Ach, lass nur«, antwortete sie, »das macht mir nichts aus, die paar Handgriffe. Außerdem würdest du immer nur das frische Zeug auftischen ...« Sie lächelte ihn an.
Er sagte nichts darauf. Das war ein weiterer Punkt des Missvergnügens: seine Neigung, Lebensmittel, die auch nur ein bisschen alt geworden waren, in den Biomüll zu entsorgen, Käsereste, die letzten fünf Scheiben Salami und die Anschnittstellen vom Brot. Besonders die. Sie konnte das nicht leiden, es mache sie krank, sagte sie, wenn Lebensmittel weggeworfen werden, vor allem Brot. Er verstand es, wenn er es auch nicht nachvollziehen konnte; die Sache hatte nichts mit realem Wertverlust und Verschwendung zu tun. Mythische Überhöhung des Brotes als Inbegriff der Nahrung, das lag an ihrer kleinbürgerlichen Herkunft, das hattenihr die
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