Semmlers Deal
Eltern so beigebracht, die als unmittelbare Nachkriegsgeneration noch wirklichen Mangel hatten kennenlernen müssen. In der gemeinsamen Zeit in der Villa war das nie ein Thema gewesen, weil Magda, die Köchin, diese Dinge in Eigenregie verwaltete. Semmler hatte keine Ahnung, wie viel damals weggeworfen worden war; Magda bekam eine gewisse Summe, mit der sie auch auskam, das war alles. Semmler wusste aber, dass sich seine Ursula in jenen Tagen keinen Deut darum geschert hatte, was mit der zwei Tage alten Wurst und einem Eckchen Bergkäse geschah, die Sparerei hatte erst in der Mietwohnung angefangen. Es ärgerte ihn. »Wir müssen jetzt sparen«, hatte sie mit einem Lächeln gesagt und ihm den angefaulten Apfel, den er in den Biomüllsack werfen wollte, aus der Hand genommen. »Das siehst du doch ein, Mausebär?« Sie hatte die faule Stelle ausgeschnitten, den Rest geteilt und ihm eine Hälfte gegeben. Was hätte er darauf sagen sollen? Sie war es, die mit ihrer Arbeit zum Familieneinkommen beitrug, nicht wie er durch Abhebungen von einem Konto, das langsam, aber beständig abnahm. Ihn brachte nur das Missverhältnis zwischen den Beträgen, die gespart wurden und jenem, den er verloren hatte, auf. Wie viele Jahrhunderte mussten sie alt gewordenen Käse essen, um seinen Verlust zu kompensieren? Das Ganze war lächerlich. Wir müssen sparen, ja klar, aber nicht um das Verlorene wieder anzusparen, sondern als subtile Art der Bestrafung. Sparen bedeutete, das wurde ihm schnell klar, nicht Verlustminderung, sondern Buße für jenes Versagen, das den Verlust verursacht hatte. Sie lebte in einer moralischen Welt, wo man sich alles verdienen musste und wer Fehler machte, hatte dafür grade zu stehen. So war sie erzogen worden. Für einen Millionenverlust konnte manaber nicht grade stehen . Das sah sie ein; da kollidierte ihre Kleinbürgermoral mit der schieren Quantität. Aber sie konnte ihn auch nicht einfach so davonkommen lassen. Also wurde gespart. Keine Lebensmittel weggeworfen, wenn sie auch nur halbwegs ... er verlor sich in diesen Gedanken, in den letzten Wochen häufiger. Ich sollte mit ihr darüber reden, dachte er. Das hatte er bis jetzt nicht getan. Vielleicht war alles ganz anders, vielleicht konnte er ihr mit vernünftigen Argumenten beikommen? »Schau einmal: ich habe mir ausgerechnet, wie lang es braucht, um mit diesen Wurstzipfeln auch nur hundert Euro einzusparen ...« Vielleicht war es eine reine Gewohnheit von zu Hause, vielleicht war »wir müssen sparen« ein Stehsatz, wie ihn einfach die Umgebung einer Mietwohnung ganz automatisch hervorbrachte, eine leere Floskel. Vielleicht fiel sie unbewusst in frühere Verhaltensnormen ... jetzt bemühst du schon das Unbewusste, sagte er sich, der gleiche Kleinbürgerscheiß wie die Sparerei. Hörst du dir eigentlich selber zu?
Sie setzten sich und begannen zu essen. Wurstsalat. Angerichtet hatte ihn Ursula. Schon der erste Bissen war köstlich. Er sagte ihr das, sie lächelte, tätschelte seine Hand. Dann erzählte sie von einem lustigen Fall, der ihnen tagsüber im Büro untergekommen war ... wer »ihnen«? Chris und mir, sagte sie, und schilderte den Fall, während er darüber nachdachte, wer Chris sein konnte, ein neuer Mitarbeiter? Würde bedeuten, dass Wurtz seine Tätigkeit ausweitete, kam er schon wieder in diesen Workaholic-Scheiß wie unter Hilde? Dann hätte es ja gar nicht an der Frau gelegen.
Es dauerte die ganze Erzählung Ursulas, von der Semmler nicht ein Wort mitbekam, bis ihm dämmerte, dass Wurtz mit Vornamen Christoph hieß. Chris. Klar. Das Lustige anUrsulas Fall blieb ihm auch weiter verborgen, denn es war neunzehn Uhr, die Sendung »Vorarlberg heute« begann. Daher musste nichts weiter gesprochen werden.
D er Herbst war weit vorgerückt. Zuerst hatte er es gar nicht eilig gehabt und den späten Sommer wochenlang herumtrödeln lassen mit warmen Tagen und einem stabilen Hochdruckgebiet, das über Europa hängen blieb wie angeschraubt. Aber dann hatte sich der Herbst doch seiner Aufgaben besonnen, die Temperatur mit ein paar rasch aufeinander folgenden atlantischen Tiefs hinuntergedrückt, kalten Regen und danach wieder ein Hoch gebracht, aber ein anderes, ein klares Herbsthoch mit einer deutlichen Rauchnote in der Luft und der Besorgnis der Wetterleute im Fernsehen, die klaren Tage seien von Hochnebel bedroht, der sei typisch für diese Art Hochdruckgebiete. Wenn er sich erst etabliert hatte, der Hochnebel, dann blieb er, das wussten
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