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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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alle, mindestens fünf Wochen.
    Semmler nützte die Zeit und ging spazieren. Er hatte sich in den ersten Tagen nach dem finanziellen Absturz vor dem Spazierengehen gefürchtet. Es war das Pensionistenhafteste, was ihm zu dieser Phase unfreiwilliger Untätigkeit einfiel, die sich vor ihm dehnte wie die sibirische Taiga; eine endlose Landschaft gleichförmiger Tage, die er nur dadurch unterscheidbar machte, dass er nicht stets dasselbe zu Mittag aß. Oder in wechselnde Restaurants ging. Große Auswahl gab es nicht. Selbstbedienung im »Interspar«, Selbstbedienung im »Kika« oder Selbstbedienung im »Sutterlüty« im Zentrum. Jeden Tag in einem richtigen Restaurant zu essen, kam nicht in Frage – und was hieß das schon: Restaurant?
    Die Pizzeria und den Chinesen, die er manchmal aufsuchte, hatte er in seiner guten Zeit als Orte der Gastronomie gar nicht wahrgenommen. Die, die er früher aufgesucht hatte, lagen nun außer Reichweite, finanziell und technisch; er hätte ein Auto gebraucht, wenn er ins »Deuring-Schlössle« in Bregenz oder ins »Mangold« in Lochau wollte. Der Audi, Nachfolger des verbrannten Jaguar, war längst verkauft, um Schulden zu begleichen. Ursula hatte einen Opel-Corsa, mit dem sie zur Arbeit fuhr; er hatte das nie in Frage gestellt. Undenkbar, dass eine Angestellte von Christoph Wurtz etwa mit dem Bus kam, das hatte keine Klasse. Semmler erledigte die Einkäufe mit Ursulas Fahrrad, sonst ging er zu Fuß.
    Es überraschte ihn, wie schnell er sich ans Gehen gewöhnte. Er ging gern und schnell, machte große Spaziergänge, Wanderungen durch Stadt und Umgebung. Wer spazieren ging, tat etwas für die Gesundheit, wer aber den Bus nahm, war ein anerkannter Verlierer. Oft ging er am Abend noch eine Runde. Ursula war zu müde, ihn zu begleiten, hatte aber nichts dagegen, wenn er die Wohnung verließ. Gehen sei gesund, sagte sie, für Fitness und Sport hätten sie sowieso kein Geld. Das Wort »Geld« trieb ihn dann auch bei Regen hinaus. Schlechtes Wetter machte ihm nichts aus, aus besseren Tagen besaß er Outdoor-Adjustierung, die er sich jetzt nicht mehr hätte leisten können. Er hatte sie damals für einen Urlaub in Island gekauft, daraus war dann nichts geworden, warum, hatte er vergessen. Spezialwanderschuhe, atmendes Gewebe und das ganze Zeug von »Bergsport Leitner«.
    Ursula kam oft sehr spät und erschöpft nach Hause. Überstunden für Wurtz, der zahlte dafür über Tarif, »und wir brauchen doch«, sagte sie, »jeden Cent, bis du wiederauf die Beine kommst«. Darauf sagte er nichts. Sie nahm an, dass er aus dem Pensionistenstatus ins aktive Berufsleben zurückkehren würde; dass dazu alle Voraussetzungen fehlten, schien sie nicht zu bemerken. Was war er gewesen von Beruf? Reich. Alles, was er je getan hatte, hing mit dem Besitz erheblicher Mittel zusammen. Für eine Tätigkeit als Millionär fehlten nun die Millionen; er konnte seinen Beruf eben so wenig ausüben wie ein Tischler den seinen in einer baumlosen Wüste. Sie begriff nicht – oder weigerte sich zu begreifen –, dass die Mittel, die in seinem Metier für einen Neustart nötig waren, in einem Menschenleben nicht erarbeitet werden konnten, auch nicht durch noch so viele Überstunden für Dr. Christoph Wurtz.
    Es führte zu nichts, wenn er darüber nachdachte. Es gab keinen Ausweg außer dem, das Unvermeidliche anzuerkennen. Das war aber ihre Sache, nicht die seine, er konnte ihr dabei nicht helfen. Er beschleunigte seine Schritte. Je schneller er ging, desto leichter entkam er fruchtlosem Grübeln, das war ihm bald aufgefallen. Davonlaufen vor Gedanken. Funktionierte.
    Auch Geräusche eigneten sich, alles, was von außen kam. Er lief zur Lustenauer Straße, dort war auch am Abend genug Verkehr. Als er die Straße erreicht hatte, verlangsamte er das Tempo, schlenderte auf dem nördlichen Gehsteig wieder Richtung Zentrum. Es gab einen Riesenstau in allen Richtungen bei der Messeparkkreuzung, außer ihm war niemand zu Fuß unterwegs. Auf der anderen Straßenseite erleuchtete das neue Hochhaus den dunklen Oktoberabend; ein Wellness-Tempel mit Bädern, Fitnessstudios, Arztpraxen und einem Hotel, in die hässlichste Umgebung der Stadt gebaut in der Nachbarschaft des Messegeländes,dreier Einkaufszentren, einer Hauptverkehrsstraße und der Autobahn. Man musste auf der Aussichtsterrasse im achten Stock eben den Blick heben und hatte das ganze Rheintal vor sich, die Ost- und die Westalpen.
    Semmler ließ das Wellnesshochhaus hinter sich.

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