Semmlers Deal
Unsichtbaren gemacht; jede Seite musste ihre Bedingungen einhalten, das war wichtig bei einem Deal, sonst nichts. Er hatte die Personen nie gesehen, denen er seine Optionen verkaufte. Der Gedanke, diese Menschen persönlich zu kennen, war geradezu lächerlich; das Wesen der Börse beruhte auf der Anonymität, das war ein technisches Erfordernis. Auch der Makler kannte ja die Beteiligtennicht. Sie traten nicht an seinen Tisch wie die Kunden an der Wursttheke im Supermarkt.
Er sah nichts von dieser Wesenheit, mit der er den größten Deal seines Lebens abgewickelt hatte, er hörte keine Stimme, niemand erschien ihm, nicht im Strahlenmeer des Morgenrots wie im Schweizerpsalm, nicht im Sturmgebraus noch sonst einer Naturerscheinung, das war alles nur Physik und Naturgeschichte. Er war nicht allein. Das »Universum« handelte. Aber nicht im Wortsinn, sondern im Sinne von »Handel treiben«. Wie ein Kaufmann alten Schlages stand das »Universum« hinter seiner Theke und wartete auf Kunden. ES wurde nicht von selber aktiv, das hätte sich nicht gehört; es war kein Marktschreier, der die Passanten mit Vorführung seiner Wunderdinge an den Stand lockte – es wartete schweigend, bis man selber herantrat und etwas vorschlug. Und alles andere, das nicht vernunftbegabt war und nichts vorschlagen konnte? Das lief, dachte Semmler, eben nach den Naturgesetzen und nach Zufall, vom Ross bis hinunter zum einfachen Elektron oder Quark und wie das ganze Zeug hieß, automatisch. Da stand kein Wille dahinter und keine Absicht. Da mischte sich das »Universum« nicht ein. Wenn ihm nicht ein Deal angeboten wurde, blieb es untätig.
Semmler verstand das umso besser, je mehr er darüber nachdachte. Das »Universum« hatte sich die Mühe gemacht, alles zu erschaffen mit all den Galaxien und Naturgesetzen und Lebensformen, und vielleicht ein paar Mal neu anfangen müssen – was wissen wir schon davon? – und jetzt, wo alles läuft, jedenfalls nicht stehen bleibt , sollte es sich weiter Stress machen und auf bloßes Bitten und Beten hin an Millionen Stellen herumschrauben und basteln undnachbessern, diesen seinen Zug erreichen, jene vom Krebs genesen lassen, alles für ein schlichtes Dankeschön? Eine gestiftete Kerze, wenn es hoch kommt? Ohne reale Gegenleistung? Das konnte man von niemandem verlangen, auch nicht vom »Universum«; Semmler wäre damit auch nicht zufrieden gewesen. Es ging hier um die Anerkennung , um Respekt. Mit Versprechungen waren die Menschen schnell, das wog nichts. Wo blieben aber die Verantwortung, der freie Wille und der ganze Scheiß? Nein, nein, Semmler musste zugeben, dass er es an der Stelle des »Universums« genau so gemacht hätte: wer etwas wollte, musste etwas geben, musste aktiv werden, musste einen Deal anbieten.
Aber er konnte sich diese Dinge noch so oft durch den Kopf gehen lassen, sie drehen und wenden, von allen Seiten beleuchten – der Schmerz über den Verlust wurde nicht geringer. Es war der Schmerz eines Kindes, dem die Einsicht ins Unabänderliche fehlt. Bei einem Handel muss man etwas hergeben, um etwas anderes zu bekommen, das liegt in seinem Wesen, das ist geradezu die Definition des Handels, wie es die Definition einer geraden Zahl ist, ohne Rest durch zwei teilbar zu sein. Sich deswegen zu grämen, war kindisch und lächerlich; auch das sagte er sich immer wieder. Nur nützte es nichts. Er trauerte dem Geld nach.
Und Karin? Karin ging es gut, soweit er das beurteilen konnte. Sie brachte gute Noten aus der Schule mit, lernte brav, bereitete sich auf die Matura vor. Sie besuchte ihren Vater ab und zu, warum auch nicht. Koslowski schien sich aus dem Berufsleben zurückgezogen zu haben; Karin wusste offenbar nichts Genaues über diesen Punkt. Koslowski führte ein bescheidenes Leben. Er verzichtete auch darauf, seine tausend Euro einzuklagen, die ihm vertraglichzustanden, aber schon lange nicht mehr überwiesen werden konnten. Er kam also wohl auch ohne das Geld aus, sehen ließ er sich jedenfalls nicht ...
Auch alle anderen, die Semmler gekannt hatte, ließen sich nicht blicken. Niemand bot ihm Hilfe oder Rat an. Er war den Leuten nicht böse deswegen, er hätte genauso gehandelt. Es war nicht Herzenskälte, sondern die nackte Angst vor dem Wahnsinnigen, dem Unbegreiflichen. Sie mieden ihn, wie sie einen gemieden hätten, der von einen Tag auf den anderen von einer geheimnisvollen Geisteskrankheit befallen war; wer garantierte, dass man sich nicht ansteckt? Von außen mussten seine Taten
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