Sengende Nähe - Singh, N: Sengende Nähe
Tobys latent vorhandene Fähigkeiten sich nicht gezeigt hätten, wenn es bereits einen E-Medialen im Laurennetz gegeben hätte. Aber da das nicht der Fall war, waren geistige Muskeln erwacht, die sonst vielleicht für immer geschlafen hätten.
Auf der Stirn des Jungen erschienen Falten, als er nachdachte; er hatte keine Schwierigkeiten, Gefühle zu zeigen. Sein Gesicht war die männliche Ausgabe seiner Schwester Sienna, ernst und sehr anziehend. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte er schließlich, „aber ich glaube nicht. Es fühlt sich … fertig an.“
„Das glaube ich auch.“ Sie nahm seine Hand, und ihrer beider Finger verschränkten sich miteinander. „Hast du die Gefühle von anderen in dir gespürt?“
Er nickte. „Aber es passiert nicht mehr dauernd – was du mir mit den Schilden gezeigt hast, funktioniert gut.“
„Wunderbar.“ Sie selbst hatte diese Fertigkeiten auf die harte Tour lernen müssen. Es gab keine anderen E-Medialen – jedenfalls keine außerhalb des Medialnet –, die ihr etwas hätten zeigen können. Als sie kürzlich auf die Vergessenen gestoßen waren, die Nachkommen einer großen Gruppe von Rebellen, die sich vor etwa hundert Jahren vom Medialnet getrennt hatten, hatte Sascha gehofft, mehr zu erfahren, aber die Vergessenen hatten sich in viele Richtungen hin entwickelt, hatten sich mit Menschen und Gestaltwandlern vermischt und ihr nur wenig helfen können.
Eine Enttäuschung, aber keine Katastrophe – sie hatte längst gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Ihre Fähigkeit, sich zu schützen, war immer gut entwickelt gewesen, sogar als sie noch mit dem Medialnet verbunden war, und das hatte ihr gute Grundlagen verschafft. Seit sie die Gefährtin von Lucas war, hatte sie gelernt, dass sie nicht immer offen für die Gefühle anderer sein musste – es hätte sie ausgelaugt oder, schlimmer noch, wäre zu stark in ihr eigenes Wesen eingedrungen. Aber manche Dinge konnten E-Mediale nicht vermeiden. „Nimmst du immer noch die Schwingungen von Gefühlen auf?“
„Wenn ich weiß, was sie fühlen, ohne mich extra anzustrengen?“
„Genau.“ Es war ihre zweite Natur, sie konnten es genauso wenig abstellen wie Atmen.
Toby nickte. „Aber das tut nicht weh. Ist ganz normal.“
„Sehr richtig – wahrzunehmen, was andere fühlen, ist normal für uns.“ Niemand würde diesem hübschen klugen Jungen einreden, dass seine Gabe ein Defekt war, dachte sie in Erinnerung an ihre eigene Kindheit. Niemand würde dieses Lächeln zerstören. Dafür würde sie sorgen. „So, wie die Wölfe riechen können, wo jemand gewesen ist und wen er berührt hat.“
„Ich habe vorhin Riley getroffen“, erzählte Toby.
„Ach ja?“
„Er ist traurig.“ Leise Worte. „Nicht, als wenn er weinen wollte, sondern ganz tief drinnen. Eine alte Traurigkeit.“
Die meisten Leute hätten nicht verstanden, was er damit meinte, aber Sascha schon. „Als wäre die Traurigkeit so tief in ihm vergraben, dass er selbst vielleicht gar nicht weiß, dass sie da ist?“
„Genau.“ Toby zögerte. „Ist das … unethisch?“ Seine Stirn legte sich in Falten, als er das Wort aussprach. „Dass ich das von ihm weiß?“
„Nun ja“, sagte Sascha. „Kommt darauf an, wie du darauf gekommen bist. Hast du deine Fähigkeiten bewusst eingesetzt, oder hast du es einfach gewusst?“
„Ich habe es einfach gewusst.“ Er nickte. „So wie bei Sienna, wenn sie grollt, oder bei Marlee, wenn sie glücklich ist.“
„Dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“ Mit einem Lächeln strich sie ihm das Haar aus der Stirn, mehr aus Zuneigung, als dass es notwendig gewesen wäre. „Wollen wir jetzt weiter an deinen Schilden üben?“
Riley war gerade auf dem Weg in sein Büro, um klar Schiff zu machen, als er etwas Eigenartiges erlebte. Sienna sprach mit Hawke in seinem Büro, die Tür stand offen, und er konnte jedes Wort verstehen. Aber das war nicht das Entscheidende. Eigenartig war, dass Sienna so höflich mit dem Leitwolf redete.
„Ich weiß es zu schätzen, dass du mir eine Stellung in der Hierarchie zuweist“, sagte sie und hörte sich wesentlich erwachsener an als sonst.
Dann war es still. „Du hast es verdient.“ Hawke, kurz und knapp. Er fragte sich wahrscheinlich, was sie jetzt wieder im Schilde führte.
„Ich werde das Rudel nicht enttäuschen“, sagte Sienna. „Indigo meint, die körperlichen Voraussetzungen für eine Soldatin hätte ich bereits – jetzt müsste ich noch die anderen Dinge
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