Sengende Nähe - Singh, N: Sengende Nähe
bedenken. „Die Leute halten sich so weit wie möglich vom Zentrum fern.“
„Du wirst dich wundern.“ Wieder hörten sie Tatianas geistige Stimme. „Ganz tief drinnen, tief unter Silentium, unter allen Schichten der Konditionierung, fürchtet sich unsere Gattung vor den Bestien in uns. Sie werden kommen.“
Kaleb wusste genau, dass sie recht hatte.
Mercy hatte ihn überrascht, dachte Riley, als er am nächsten Morgen sein Zimmer verließ. Er hatte inquisitorische Fragen erwartet und war stattdessen liebkost worden. „Raubkatze“, flüsterte er fast unhörbar.
„Riley!“ Das war Indigos Stimme.
Er blieb stehen und wartete auf sie. Mercys Worte klangen noch in ihm nach. Er hatte nicht gelogen. Er zollte Indigo unglaublich viel Respekt. Sie hatte eine der höchsten Stellungen im Rudel – es gab nichts, was er ihr nicht anvertrauen würde. Mercy hatte dieses Vertrauen infrage gestellt, und das ärgerte ihn. Noch mehr allerdings, dass sie ihn dazu gebracht hatte, seine persönlichen Vorlieben zu kritisieren – was war so falsch daran, sich eine Gefährtin zu wünschen, die lieber im Haus blieb, als sich bei ihrer Arbeit Gott weiß welcher Gefahr auszusetzen?
In Sicherheit, dachte er, ein mütterliches Weibchen wäre in Sicherheit, geschützt in ihrer häuslichen Sphäre.
Im Gegensatz zu Brenna. Im Gegensatz zu seiner Mutter.
„Was gibt’s?“, fragte er und schloss den Deckel über diesen Erinnerungen.
Indigo stemmte die Hände in die Hüften, die Augen, deren Farbe sie ihren Namen zu verdanken hatte, sahen ihn prüfend an, das schwarze Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was ihn daran erinnerte, wie Mercy ihr Haar trug. Beide Frauen waren geradeheraus und machten keine unnötigen Umstände. Aber nur eine von ihnen zog ihn so heftig an, dass sich sein Innerstes zusammenzog und die Brust ihm eng wurde.
Mercy würde niemals den sicheren Weg wählen, sich nie von ihm beschützen lassen.
„Wo warst du gestern?“, fragte Indigo und blähte die Nasenflügel, um eine Witterung einzufangen.
Das war kein Grund zur Besorgnis. Mercy war nicht an ihn gebunden, ihr Geruch haftete nicht an ihm. Und seiner nicht an ihr. Niemand wusste also von seinem Anrecht auf sie – auch nicht die beiden südamerikanischen Wächter, die sich immer noch in ihrer Nähe herumtrieben. Er ballte die Fäuste.
„Ich habe mich bei den Bären umgesehen“, antwortete er Indigo und zwang sich, die Fäuste zu lösen. „Hast du versucht, mich zu erreichen?“
„Ja – die Ratten sagen, die Söldner des Menschenbundes streifen durch die Stadt. Genaueres wissen sie nicht.“
„Dann hat die Überwachung also keinen Erfolg.“
„Würde ich nicht sagen – um etwas unternehmen zu können, müssen sie uns erst einmal ablenken. Das kann ziemlich nervenaufreibend sein.“
„Hoffentlich führt es dazu, dass sie ihre Sachen packen und abhauen.“ Ein kleiner Junge mit Kardinalenaugen kam den Flur entlang. „Hallo, Toby.“
Der Neffe von Judd Lauren bedachte ihn mit einem scheuen, süßen Lächeln, das Riley am liebsten sofort erwidert hätte. Diese Wirkung hatte der Junge nun einmal. „Hi, Riley. Hi, Indigo.“
„Hallo, Kleiner.“ Indigo zerzauste ihm das Haar.
Toby ertrug diese Demütigung schweigend. „Sascha erwartet mich.“
„Sascha will herkommen?“, fragte Indigo, ihre Hand lag auf der Schulter des Jungen.
Toby nickte. „Sie will mir bei etwas helfen.“ Er tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn, um anzudeuten, dass dieses Etwas geistiger Natur war, wahrscheinlich hatte es mit seinen Fähigkeiten zu tun.
„Lauf schon“, sagte Riley. „Du willst doch nicht zu spät kommen.“
Toby lächelte wieder. „In Ordnung.“ Doch bevor er abzog, griff er sich in die Tasche und zog ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen heraus. „Das ist für dich.“ Er legte es dem überraschten Riley in die Hand und rannte weg, bevor dieser ihn fragen konnte, was in dem Päckchen war.
„Nanu“, sagte Indigo in amüsiertem Ton, „ich habe wohl kein Geschenk verdient?“
„Ich bin sein Onkel.“ Zwar nur angeheiratet über Brennas Gefährten Judd, aber für Riley machte das keinen Unterschied. „Was das wohl ist?“
„Mach’s doch auf.“ Indigo machte keinerlei Anstalten zu gehen.
„Schon mal was von Privatsphäre gehört?“
„Nein, noch nie.“
Seine Mundwinkel zuckten. „Du treibst dich mit Mercy herum.“
„Wir unterhalten uns manchmal“, gab sie zu. „Es ist … na ja, nicht
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