Sensenmann
blinkte und bog in Richtung Zentrum ab. Auch in Glauchau hatte es zu DDR-Zeiten ein Landesarchiv gegeben, das nach 1990 ins sächsische Staatsarchiv Chemnitz eingegliedert worden war. Das schien ein gutes Vorzeichen für seine Suche zu sein.
Matthias schirmte die Augen mit der Handfläche ab und sah an dem dreistöckigen Fabrikgebäude nach oben. Die Ziegelsteine leuchteten im Licht der Vormittagssonne. Man durfte hier als Besucher nicht parken, aber das war ihm egal. Seine Beinmuskeln fühlten sich wie Gelee an, als er aus dem Auto stieg. Im Eingangsbereich hing eine Schautafel, auf der die Lage der Zimmer eingezeichnet war. Nach der Anmeldung konnte man in einem der beiden »Benutzerräume« in sogenannten Findemittel-Dateien
und im Bibliothekskatalog recherchieren. Während sich Matthias noch fragte, was eine Findemittel-Datei war und welcher Bürokrat sich diesen unverständlichen Begriff ausgedacht haben mochte, kam eine Schar schwatzender, kichernder Mädchen die Treppe herunter und stöckelte an ihm vorbei. Studentinnen wahrscheinlich. Eine von ihnen drehte sich nach ihm um und grinste, aber Matthias vermochte es nicht, ihr Lächeln zu erwidern. Das Gezwitscher verstummte, und er setzte sich langsam in Bewegung, im Geiste ständig die Formulierungen aus den Gesetzestexten wiederholend. Die Behörde hat den Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist.
Das war sehr schwammig formuliert. Wen wollte man damit schützen? Schlimmer noch klang der nächste Absatz. Die Behörde ist zur Gestattung der Akteneinsicht nicht verpflichtet, soweit die Vorgänge wegen der berechtigten Interessen der Beteiligten oder dritter Personen geheim gehalten werden müssen.
Matthias war vor der Tür zur Anmeldung angekommen. Sein Herz sprang wie ein verrückt gewordener Pingpongball in der Brust herum.
Der schwarze Golf heulte auf. Reifen quietschten über bucklige Pflastersteine. Dann schoss das Auto über den Hof hinaus auf die Straße. Vor der nächsten Ampel kam Matthias gerade so zum Stehen. In seinem Kopf pfiff ein startender Düsenjet. Vor den Augen flirrten rote Schlieren. Die ältliche Beamtin mit den Omalöckchen hatte ihn eiskalt abgebügelt. Selbstverständlich gestatte die Behörde den Bürgern Akteneinsicht. Aber erstens ging es in seinem Fall, soweit sie erkennen konnte, nicht um rechtliche Interessen, zweitens lagerten die gesuchten Akten gar nicht hier. Nachdem sie diese Auskunft zwischen den rosabemalten Lippen herausgequetscht hatte, war er nicht mehr
existent gewesen. Sie hatte sich wieder ihren Unterlagen zugewandt.
Soweit sie erkennen konnte? Matthias hatte sich das Namensschild der Frau angesehen und beschlossen, sich bei ihren Vorgesetzten über die unfreundliche Art der Beamtin zu beschweren. Schließlich wurde sie von seinen Steuergeldern bezahlt. Dieser Vorsatz hatte nur leider nicht dazu geführt, dass sich der Sturm in seinem Inneren gelegt hätte.
Erst nach einer Minute hatte die Frau bemerkt, dass er noch immer vor ihrem Tresen stand, und mit herabgezogenen Mundwinkeln zu dem ungebetenen Gast aufgesehen.
Den Blick starr auf die Straße gerichtet, die linke Hand am Lenkrad, klappte Matthias das Handschuhfach auf und tastete nach den Triptan . Sie halfen nicht, aber er musste etwas einnehmen, nur um das Gefühl zu haben, Medizin herunterzuschlucken. Erst nachdem sie einen zweiten, längeren Blick auf ihn geworfen hatte, schien der Frau aufzugehen, dass Matthias Hase nicht so schnell aufgeben würde. Sie war damit herausgerückt, dass Akten ehemaliger Kinderheime in das Ressort »Soziales, Gesundheit und Familie« fielen und, wenn überhaupt, dann in Dresden zu finden waren. Oft seien sie jedoch auch vernichtet worden. Für eine weitere Suche empfahl sie ihm das Standesamt seines Geburtsortes. Dort könne man eine beglaubigte Abstammungsurkunde mit allen Daten erhalten.
Sein Geburtsort! Matthias lachte verächtlich. Er kannte weder den Ort, in dem er geboren worden war, noch die Namen seiner Eltern. Und ob es Sinn hatte, nach Dresden zu fahren, würde er sich noch überlegen.
Hinter seinen Schläfen pulsierte der Zorn. Er brauchte diese Akten nicht. Zumindest nicht für das, was jetzt kam. Jetzt würde er sich die Gurich vornehmen. Nur das konnte den Aufruhr in seinem Innern wieder etwas beruhigen.
41
»Ja, das ist interessant. Scheint mir eine gute Spur
Weitere Kostenlose Bücher