Sensenmann
herausfinden, wo Rainer Grünkern als Erzieher gearbeitet hatte und was damals passiert war. Sie speicherte den Artikel, an dem sie gerade geschrieben hatte, ab und seufzte. Panorama war langweilig. Aber man konnte Zeit einsparen, wenn man schnell die passenden Themen fand.
Sie warf einen Blick zum gegenüberliegenden Schreibtisch. Auf Toms Platz saß Elsa Breitmann, eine von den Freien, und schrieb, ohne hochzusehen. In der Abwesenheitsliste stand unter Fränkel »Landgericht« und in der Zeitschiene »bis 18:00 Uhr«. Das bedeutete, dass er heute wahrscheinlich gar nicht mehr in die Redaktion zurückkehren würde. Lara beschloss, dass sie gar nicht wissen wollte, welchen Prozess Tom begleitete. Wenigstens konnte er so nicht hinter ihr her schnüffeln. Sie schaute in ihr Notizbuch und begann dann, im Internet nach Kinderheimen zu suchen. Kinderheim Meerane, Kinderheim Glauchau, Kinderheim Hartmannsdorf …
Google war eine tolle Erfindung, aber manchmal überfrachtete einen die Suchmaschine mit Treffern. Lara wusste inzwischen, dass es in der DDR in den letzten Jahren vor der Wende 474 Kinderheime, darunter zahlreiche sogenannte Spezialheime für angeblich schwer erziehbare Kinder und 32 Jugendwerkhöfe, in denen Heranwachsende zu regimetreuen sozialistischen Persönlichkeiten umerzogen werden sollten, gegeben hatte. Das machte pro Bezirk um die dreißig. Wie viele Kinder insgesamt dort untergebracht gewesen waren, stand nirgends. Sie hatte eine Zahlenangabe zu 1981 gefunden, demnach hatte es über 25 000 Heimkinder gegeben, von denen 3200 in den Spezialkinderheimen und 2900 in den Jugendwerkhöfen gelebt hatten.
Erst jetzt – zwanzig Jahre später – begann man, das in den DDR-Kinderheimen begangene Unrecht wahrzunehmen. 2009 hatte es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben, und nun konnten ehemalige Insassen auch in Sachsen auf eine Rehabilitierung und in manchen Fällen sogar auf eine SED-Opferrente hoffen. Allein in den ersten drei Monaten nach der Bekanntgabe dieses Urteils waren nur in Leipzig weit über hundert Anträge eingegangen. Es war das erste Mal, dass Lara mit dem Thema konfrontiert wurde. In den letzten Jahren hatte es eine Aufdeckungswelle über Missbrauch und unmenschliche Züchtigungen
in den Heimen der ehemaligen Bundesrepublik gegeben, Bücher waren erschienen, Artikel verfasst worden. Dass auch in den DDR-Kinderheimen nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, kam erst jetzt ans Licht. Vielleicht konnte man eine Artikelserie daraus machen. Lara speicherte ihre Ergebnisse auf dem USB-Stick. Auf dem Dienstcomputer waren sie nicht sicher. Jeder kannte ihr Passwort und konnte auf die Dateien zugreifen. Und wie sich letztes Jahr gezeigt hatte, geschah das auch ab und an. Elsa Breitmann stieß einen Seufzer aus und erhob sich. »Ich verschwinde dann wieder. Wenn etwas ist«, sie kam um den Tisch herum und hob grüßend die Hand, »könnt ihr mich auf dem Handy erreichen.«
Lara nickte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Suchseiten zu. Es gab eine Menge Foren zu Heimkindern. Ehemalige tauschten sich aus, suchten nach Kindern, die zur gleichen Zeit dort gewesen waren, oder gaben sich gegenseitig Tipps und unterstützten sich bei Recherchen. Vielleicht fanden sich hier erste Hinweise darauf, wo Rainer Grünkern gearbeitet hatte. Man konnte auch mit den angemeldeten Nutzern Kontakt aufnehmen und nachfragen, ob jemand den Namen schon einmal gehört hatte.
Erst als Isabell »Kaffee?« aus der Küche trompetete, tauchte Lara aus ihrer Versunkenheit wieder auf, reckte die Arme über den Kopf und streckte sich mit einem Ächzen. »Brauchst ihn nicht rauszubringen, Isi, ich komme in die Küche.« Die Praktikantin nickte ihr zu und verschwand wieder.
»Ich nehm auch einen!« Jo kam aus dem Nachbarraum und ging auf Lara zu. Ein halbes Lächeln hing in seinem Mundwinkel. »Hallo! Du warst vorhin so vertieft, da wollte ich dich nicht stören.« Er folgte ihr in die Küche. »Hast wohl spannende Themen?«
»Eher nicht. Ich mache ja seit neuestem die Panoramaseiten. Das ist eher unspektakulär.«
»Ach, ja. Tom hat ja jetzt das Gerichtsressort.« Jo strich Lara über den Arm. »Ärgere dich nicht darüber. Es wird auch wieder andere Zeiten geben.« Dann wandte sich der Fotograf Isabell zu, die gerade ausschenkte. »Und du, flotte Biene? Freust du dich schon auf neue Herausforderungen?«
»Na ja.« Isabell stellte die Glaskanne zurück auf die Heizplatte und zog einen Flunsch.
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