Sentry - Die Jack Schilt Saga: Die Abenteuer des Jack Schilt (German Edition)
Tag, an dem sie uns für immer verließ, war unser Vater genauso abwesend wie bei der Geburt seiner Söhne. Erst Tage nach ihrer Beisetzung tauchte er wieder auf und widmete sich wortlos noch intensiver seiner Arbeit, wenn das überhaupt möglich war. Ihren Namen erwähnte er nie wieder. Nur einmal habe ich ihn klagen hören, spät nachts, eingeschlossen in seiner Kammer. In jenem Moment hätte ich ihn gerne getröstet, den Schmerz geteilt. Undenkbar jedoch. Selbst wenn sich die Tür geöffnet und er in seiner Trauer vor mir gestanden hätte, würde ich es nicht geschafft haben, ihn in die Arme zu nehmen. Die unsichtbare Mauer zwischen uns erwies sich als unüberwindlich.
Vor wenigen Tagen, als ich ihm von Robs Verschwinden erzählt hatte, offenbarte sich ums andere Mal ihre unbezwingbare Höhe. Er schien es nicht einmal bemerkt zu haben. Noch weniger machte er sich offensichtlich Sorgen. Dinge wie diese hatten keinen Platz mehr in seiner Welt. Wären wir beide gleichzeitig auf und davon gewesen, er würde es wahrscheinlich erst nach Wochen realisiert haben. Weder ich noch Rob hatten jemals einen richtigen Platz in seinem Leben erobern können. Vor langem hatte ich es aufgegeben, mich darum zu bemühen, geschweige denn, unseren Vater verstehen zu wollen.
Nun sah er mich an. Hobelspäne hatten sich in seinem salz- und pfefferfarbenen Haar verfangen, die Stirn glänzte vor Anstrengung. Er war überrascht, mich zu sehen. Um diese Tageszeit war ich selten in der Nähe des Hauses. Vermutlich wähnte er mich eher beim Fischen oder bei der Verrichtung sonstiger Tätigkeiten, falls er je Gedanken daran verschwendete, wo sich seine Söhne überhaupt herumtrieben. Ich spürte genau, ihn zu stören. Er hingegen bemerkte meine Absicht, ihm etwas mitteilen zu wollen.
„Spuck es einfach aus!“ forderte er kurzerhand. Zuweilen gefiel mir seine barsche Art sogar.
Und ich spuckte es aus.
„Ich glaube, Rob ist auf dem Weg nach Laurussia.“
Die Augen des alten Robert Schilt verengten sich.
„Wie kommst du darauf?“
Jetzt kam der noch unglaubwürdigere Teil.
„Ich habe nicht nur einmal davon geträumt.“ Noch während ich es sagte, bemerkte ich, wie töricht es klang. Ohne die Hintergrundinformationen, die ich wohlweißlich verschwieg, musste es sich geradezu lächerlich anhören. „Ich fühle, dass es so ist.“
Mein Vater sah mich prüfend an. Unvermittelt wandte er sich ab und begann wieder zu hobeln.
„Und jetzt bist du gekommen, um mir zu sagen, du willst ihm nachgehen, habe ich Recht?“
Ich nickte.
„Du willst aufgrund eines simplen Verdachts das Tabu brechen?“ Mein Vater warf den Hobel krachend hin und sah auf. Er war unversehens wütend geworden. „Weißt du eigentlich, was du da sagst?“
Was auch immer ich mir von diesem Gespräch erwartet hatte – und es war beileibe nicht viel – eines war schnell klar: Mein Vater stellte sich gegen den Plan.
„Vielleicht kann ich ihn vorher aufhalten“, entgegnete ich sofort eifrig.
Mit seinem unnachahmlich autoritären Gesichtsausdruck, der mir von Kindesbeinen an Respekt eingeflößt hatte, sprach mein Vater: „Robert ist ein gescheiter Kerl. Er weiß um das ungeschriebene Gebot, keinen Fuß in das Reich der Opreju zu setzen. Nur ein Wahnsinniger würde dies tun. Ich bin überzeugt, dass es bei ihm nicht so ist. Wie ist das bei dir? Bist du wahnsinnig, Jack?“
Mit gesenktem Blick verneinte ich.
„Dann schlag dir diese Dummheiten aus dem Kopf!“ Er ergriff sein Werkzeug und nahm die Arbeit wieder auf. „Nun geh, ich habe zu tun und kann mich nicht mit diesen Schwachheiten herumschlagen.“
Die Reaktion meines Vaters enttäuschte zutiefst. Niemals hätte ich erwartet, wie widerstandlos er das Verschwinden seines ältesten Sohnes hinnahm, die Ehrfurcht vor einem jahrhundertealten Tabu über sein Schicksal stellte.
Seit Ende des Großen Krieges hatten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Menschen den Skelettfluss überquert, den Zadarkanal durchfahren oder sonstwie gegen das unantastbare Gebot verstoßen – doch eine Invasion der Opreju war ausgeblieben.
Fast dreihundertfünfzig Jahre lag das Gefecht von Cape Travis zurück, der letzten blutigen Auseinandersetzung zwischen Menschen und Opreju. Die Wiederbesiedelung des südlichen Aotearoa, eines der Hauptkriegsplätze, war nur stockend in Gang gekommen. Seit Ende des Großen Krieges gab es keine gesicherten Berichte mehr über eine Anwesenheit der Opreju in Aotearoa, war kein Mensch
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