Sentry - Die Jack Schilt Saga: Die Abenteuer des Jack Schilt (German Edition)
aber jetzt wieder zurück, an einem breiten Flusslauf vorbei, der sich wie ein blaues Band durch das ebene, saftig grüne Land zog, und strich wieder über die schneebedeckten Kronen des Gebirgszuges. Ich sah Rob erneut laufen, auf das Gebirge zu. Wollte er es überqueren? Konnte ich ihn nicht aufhalten, ihn umdirigieren? Aber ich trieb an ihm vorbei, passierte ihn ohne bemerkt zu werden, und einen Flügelschlag später war er aus meinem Blickfeld verschwunden.
Die weiße Stadt! Als ich anderntags erwachte, hatte sich ihr grandioser Anblick tief und in allen schillernden Farben in die Erinnerung gegraben. Eine großartige Stadt, erbaut zwischen Bergen und Meer! Jetzt im hellen Morgenlicht erschien mir dieses Bild nicht mehr so fremdartig. Wo hatte ich es schon einmal gesehen?
Gedankenvoll kletterte ich aus meiner Schlafstatt und griff zielsicher nach einem dicken Bildband mit vielen gedruckten Fotografien. Tatsächlich! Da waren sie! Es handelte sich um die alte Hauptstadt Laurussias, handelte sich um Hyperion!
Mit wild klopfendem Herzen blätterte ich weiter, jedes einzelne Bild genauestens prüfend. Konnte es sein? War Rob auf dem Weg nach Hyperion? War dies der Hinweis, den ich mir erhofft hatte? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt. Der Gedanke, ihm zu folgen, reifte innerhalb weniger Stunden von bloßer Idee zu wahrer Besessenheit. Ich musste es tun. Ich musste!
An diesem Nachmittag sprach ich endlich meinen Vater an. In seiner Werkstatt arbeitend fand ich ihn beim Ausbessern der von den heftigen Winterstürmen arg in Mitleidenschaft gezogenen Fensterläden auf. Vater war in dieser Hinsicht fabelhaft, ich bewunderte ihn für sein handwerkliches Geschick. Er war Zimmermann, Maurer, Tischler, Dachdecker, Steinsetzer und was weiß ich nicht noch alles in einer Person. Und er arbeitete akkurat wie kein Zweiter. Seine Qualitätsarbeit genoss guten Ruf in Stoney Creek. Sommers wie winters gab es für ihn immer zu tun. Das Fischen stellte nur einen Nebenerwerb dar, eine Art Zeitvertreib für seine beiden Söhne. Rob hatte kurz vor seinem Verschwinden noch mit dem Gedanken gespielt, sich ein eigenes Boot zu bauen und dann ganz und gar als Fischer zu verdingen. Die Vorstellung, meinen Lebensunterhalt auf See zu verdienen, früh am Morgen hinaus zu segeln, um abends mit reichem Fang zurückzukehren, gefiel mir ausnehmend gut. Zumal ich handwerkliche Fähigkeiten leider nicht vererbt bekommen hatte.
Mein Vater sah von seiner Arbeit auf. Die Sonne fiel durch das Fenster direkt auf ein vom Leben zerfurchtes Gesicht und zeichnete es schonungslos in allen Einzelheiten. Mir fiel erneut auf, wie schnell er alterte. Die Veränderungen, die Mutters Tod vor eineinhalb Jahren mit sich brachten, hatten tiefe Spuren in seinem schwermütigen Antlitz hinterlassen.
Wir beiden Kinder hatten von klein auf ein merkwürdig zurückhaltendes Verhältnis zu unserem Vater entwickelt, Rob vielleicht sogar ein noch ein ganzes Stück mehr als ich. Irgendwie war es nie gelungen, Zugang zu ihm zu finden. Ich spürte zwar instinktiv eine Art von verstümmelter Zuneigung, doch drückte sie sich zu keiner Zeit in für ein Kind begreiflicher Form aus. Früh fühlte ich mich von ihm lediglich geduldet, jedoch nie angenommen oder gar geliebt.
Liebe fanden wir dafür stets bei unserer Mutter, die sich – so schien es – doppelt Mühe gab, ihren beiden Söhnen ein nötiges Maß an Herzenswärme zukommen zu lassen.
Wir lernten zeitig, unseren Vater in Frieden zu lassen, ihn nicht in der Werkstatt aufzusuchen, in der er tagein tagaus bis spät in die Nacht arbeitete, ihn nicht zu bitten, uns mit aufs Meer oder auf die Jagd zu nehmen. So blieb er auf eigenartige Weise ein Fremder, ein Unbekannter, der zufälligerweise mein Vater war. Robert Schilt sr. jedoch tat alles für seine Familie, es mangelte nie an irgendetwas. Er sorgte aufopferungsvoll für uns alle, daran gab es keinen Zweifel. Womöglich stellte dies die einzige für ihn mögliche Form dar, seinen Kindern so etwas wie Wohlwollen zu zeigen.
Oft fragte ich mich, wie meine Mutter jemals etwas für ihn empfunden haben konnte, für ihn, der meiner Erfahrung nach außerstande war, Gefühle zu zeigen, geschweige denn sie in Worte zu fassen. Unsere Mutter gab uns stets die gleiche Antwort: „Es ist schade, wie wenig ihr euren Vater kennt. Er liebt euch beide sehr, so wie er mich liebt.“ Dann strich sie uns übers Haar und lächelte entrückt.
An dem
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