Sepia
ist. Man weiß es nicht. Dass er zu einer revolutionären Theatergruppe gehört hat, kann ich mir nicht vorstellen. Überhaupt, dass er mal jung war. Wenn er redet, tönt es wie von ferne, als würde er hinter seiner eigenen Maske eine Rolle spielen. Hier spricht der Dekan. Es folgt ein Text, eine Rede, wahrscheinlich seine Meinung, die nirgends geschrieben steht, er improvisiert. Selbst wenn er mal von gestern oder von heute spricht, klingt das nicht wie aus der Zeitung. Man weiß nicht, was man denken soll und wo der Schwerpunkt liegt.
Er orgelt, sagt Ludwig Zweig. Zieht Register: Georg Lukács. Ernst Fischer. Einige allgemeine Tendenzen des Formalismus in Kunst und Literatur. Siegfried Müller, der mit dem Fliegenschiss auf der Radioskala, hatte von den Abweichlern Fischer und Konsorten bereits gehört, er ist interessiert am Geschehen und neugierig, er will erkunden, was der Dekan für ein Mensch ist, ob er alleine lebt, warum er hier an der Schule unterrichtet, aus freien Stücken oder auf Bewährung. Ich denke, wir können bis jetzt nur froh sein. Er lässt mich in Ruhe, wir haben einen freien Raum.
Ludwig Zweig fällt dem Dekan manchmal ins Wort, der Dekan hält inne, er atmet tief, auch ich halte die Luft an. Ludwig will nicht streiten, er denkt einfach anders und weiter. Er denkt an die Vergeblichkeit. Ich bin froh, wenn der Dekan nach Ludwigs Einwurf ohne Umstände fortfährt. Er wartet, er nickt sogar manchmal. Die Orgel tönt. Das Bild, das uns dieRevolution jetzt liefert, sagt nichts über die in die ferne Zukunft gehende Berechnung, mit der ein Geist sie erweckt hat. Ludwig zwinkert mir zu. Wenn wir wollen, sind wir uns einig. Ich zucke die Achseln. Nicht gleichgültig, sondern fragend, manchmal würde ich gerne lachen, aber das lasse ich sein.
Felix Wagner kann mit den Orgelvorträgen und mit Ludwigs schwarzen Wolken weder in seiner Satire- noch in der Werbetextpraxis etwas anfangen. Siegfried empfiehlt ihm auf seinen langen Bahnfahrten, Wien hin und zurück, die Bibel, die Testamente, zu lesen, so als ob du dazugehörtest. Siegfried hilft auch mir mit weiterführender Literatur. Ich strenge mich an, mache Notizen und lerne den Text.
Lieber Großvater, es handelt sich bei uns hier immer um eine ernste Angelegenheit. Meist ist der Frieden bedroht. Oft sind die Errungenschaften in Gefahr.
In den Pausen geht unser Kollektiv zum Luftschnappen auf den Balkon, oder ich laufe allein hinunter zum See. Die geschwungenen Treppen, die Traversen. Das Rosenrondell.
Der alte Garten verharrt einen Augenblick in der ihm zugedachten Gestalt. Die alte Ordnung: Fingerhüte und Glockenblumen bestimmen selbst, wohin sie seit Gründerzeiten gehören. Mutterpflanzen streuen eigenwillig den reifen Samen an den richtigen Fleck. Der Schritt aus einer Epoche in die andere. Aus der Nähe sieht man, wie die Buchenhecken über das Maß ihre Zweige ausstrecken, wie der Taxus allmählich seine Pyramidenform verliert. Aber von oben, vom Balkon aus, präsentiert sich das alte Bild. Alles wie einst. Aufgesparte Anmut. Das Terrain behauptet sich tapfer gegen die Hausmeister, gegen Sicherheitsgitter und Fahrradständer, die Hängebirke breitet den Mantel über den Braunkohlevorrat; die Aschentonnen, die Winterkiste, die Feuerleiter verschwinden hinter den Fliederbüschen.
Das Studienjahr endet im Juli.
In den Seminaren werden Scheine mit Einsen und Zweien verteilt. Der Dekan hat keine Zeit für Beurteilungen. Weder mündlich noch schriftlich. Zum letzten Montagsseminar lässt er noch einmal seine Orgel tönen, er fasst seine Lehrmeinung in einem Satz zusammen. Ein Dichter, im Gegensatz zum Chronisten, steht nicht auf Seiten der Ereignisse, sondern auf Seiten der Gesellschaft. Und nun erwarte ich, dass ein jeder von Ihnen an seine Stätte gehe, um das Gelernte in den Monaten bis zum September zu vertiefen. Denn Ferien haben Sie in diesen Wochen nicht. Ein schöpferischer Mensch hat niemals Ferien, der ist immer in Aktion. Ihren Niederschlag finden mögen die nächst geforderten Aktivitäten auf weißem Papier, DIN A4, mit Schreibmaschine. Sieben Seiten, nicht mehr, nicht weniger. Überschrift für alle verbindlich: Antwortzeichen. Das gilt auch für Sie, Rafaela Reich.
Eli vermutet einen Irrtum. Wenn er auch ihren Namen genannt hat, so hat er sie gewiss verkannt. Die dunkle Person im Gegenlicht. Die Sonne spiegelt auf dem ovalen Mahagonitisch. Licht und Licht gibt Finsternis. Das Dunkelfräulein Rafaela. Was hat er georgelt?
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