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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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kriechend und tamariskenartig, hellgrüne Kissen. Genau so sollte es über die Jahre hin werden, Richtung Mahnmal und Feuerschale, eine kunstvolle Perspektive.
    Eli hat hier nichts mehr zu schaffen, kein Pflanzen, kein Gießen, kein Nichts. Sie darf hier nicht einmal zu einem Grab gehen, wo sie sich bücken und verblühte Blumen abbrechen könnte, wo sie gewesen sein müsste, endlich wieder einmal nach so vielen Monaten. Nicht einmal ein Urnengrab. Vater in Russland, Mutter irgendwo im schlesischen Grenzgebiet. Sie hat hier nichts zu suchen. Das Herz ist schwer. Nicht wie es sich für eine Friedhofsbesucherin gehört, sondern anders. Es gibt sieben Arten des Regens, darüber hat ein berühmter Meister sogar einen Film gedreht. Platzregen und Landregen zum Beispiel. Bei der Trauer handelt es sich vielleicht um verschiedene Wolkenformen, die im Inneren entstehen:
    Weil ich die Vermissten vermisse.
    Weil Anton so viel raucht. Er ist wegen mir zu einem Kettenraucher geworden.
    Weil der Assistent Erwin Schubert jedes Mal meinen Namen vergisst.
    Weil ich keinen Schlüssel mehr habe für die Dresdner Wohnung.
    Weil ich nachts träume. Von meiner Angst und dem höllischen Feuer, den brennenden Augen.
    Eli läuft über den Hubertusplatz, wo das Pferdekarussell sich dreht. Nicht mehr mit Hilfe von Schulkindern, die sich eine Freifahrt oder einen Fünfer verdienen wollen. Es dreht sich allein. Ein versteckter Motor setzt die Pferde in Trab.
    Unterdes scheint es fast so, als wäre Eli gerne betrübt oder traurig, gerne den Tränen nahe. Das Unabänderliche hat sie irgendwo am Weg verloren, Hoffnung macht die Augen nass, Neugier und Vertrauen streicheln das Herz, weil morgen meist wieder alles ganz anders sein wird.
    Das Schicksal unsres Daseins Herz und Haus,
    Ist beim Unendlichen, und einzig dort;
    Ist bei der Hoffnung, welche niemals stirbt,
    Ist Streben und Erwarten und Verlangen,
    Und immer etwas, das sich sehnt zu sein. Das ist eine Übersetzung aus dem Englischen, die sie gemeinsam mit Schubert im Poetikseminar probiert haben. Es hat Wochen gedauert, ehe sie sich auf diese Variante geeinigt hatten. Vielleicht fällt uns noch etwas Besseres ein.
    Streben und Erwarten und Verlangen.
    So erreicht Eli die Wilder-Mann-Straße 8, wo Anton wohnt. Wo Eli gelebt hat. Im Boudoir, mit Bett, Schrank und einer Schreibmaschine, die sie im Rucksack davontragen will in ihren neuen Kreis. Lernen hat sich Eli anders vorgestellt. Das Brüten und Zweifeln den ganzen Tag und auch in der Nacht. Was ein Studium ist, wird sie Anton nicht erklären können. Sie steht vor der Tür.
    Sie klingelt, klopft, flucht. Keiner zu Hause.
    Dubberts von oben aus dem ersten Stock rufen, staunen: Ach, die Eli, fragen, ob sie reinkommen will.
    Schöndank, ruft Eli. Ich such noch. Weil Anton nicht aus der Welt sein kann.
    Aus der Welt kann er nicht sein, rufen Dubberts. Und wenn zwei im selben Moment dasselbe sagen, kann man sich eigentlichwas wünschen. Anton im Schrebergarten. Das wäre eine Möglichkeit.
     
    Der Garten ist verschlossen. Eli kriecht in alter Übung durch das Hundeloch in der Ligusterhecke. Die Sprossenleiter ist aufgehängt, sogar angekettet. Die Gießkanne umgedreht, damit sie nicht rostet. Alles signalisiert Abwesenheit. Kein Empfang, kein Gruß, kein Wasser. Ein schwarzes Stück Fahrradmantel versteckt das Vorhängeschloss. Im Schacht der gesicherte, abgestellte Haupthahn. Am Pflaumenbaum wenigstens Pflaumen, wenigstens die hängen knüppeldick über den Stützen herunter bis auf die Erde, und es leuchten reife Tomaten. Vom Strauch in den Magen, ohne Brot. Eine Gurke und Himbeeren. Hinter der Hecke das weiße Gitter, die Eisenstäbe, die Messingkugeln. Eli faltet die Hände. Himmel und Erde. Es ist die Höhe. Großvater, der Kompostfanatiker, der jeden Pferdapfel von der Straße kehrte, der die Asche aus dem Küchenofen in den Garten trug, hatte aus ihrem Bett ein Kompostgehege gebaut. Nicht zu fassen und typisch Anton.
    Kompostplätze aus alten Lazarettbetten, das war im Jahr nach dem Krieg eine populäre, sich schnell ausbreitende Erfindung, sie hatte ihren Ursprung wahrscheinlich in Dresden, hier in den Gärten, genau hier, wo Eli jetzt steht, um auf den Großvater zu warten, wo sie sich Sorgen macht um den alten Kauz, hier hatte es angefangen. Das war der Ausgangspunkt. Von hier aus hatte sich die Mode über das Land Sachsen verbreitet, über Deutschland, über Europa. Zwischen Dresden und Berlin an der Bahnstrecke, an der Autobahn,

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