Sepia
der Bäckerei an der Ecke baumelte am Ast der verkohlten Linde. Zu hoch, sonst hätte sie schon einer mitgenommen. Von dort war die Tellermine, aus der Du im Trafo-Werk einen Fuß für den Christbaum geschweißt hast.
Denke nicht, dass ich wieder Geld für ein Buch rausgeschmissen habe. Brecht ist Pflicht.
Lieber Anton!
Ich bin von den schöpferischen Aufgaben befreit, weil ich nicht kreativ bin. Das heißt, ich muss den positiven Geist der Natur nicht als Phantasiewerk schaffen, ich muss den positiven Geist nur als zweite leibhaftige Natur in den Werken der Künstler erkennen. So steht es im Aufnahmebrief und nun auch im Leistungsprotokoll.
Felix Wagner schreibt Satiren für Zeitungen, außerdem, wie er mir verraten hat, Werbesprüche für eine westliche Geldschrankfabrik. Ede, es ist ein ADE, nicht zu knacken, schade. Dafür hat er den Deutschen Preis für Text und Gestaltung gewonnen. Felix kommt nur montags bei uns vorbei. Die Facharbeiten schreibt er im Interzonenzug zwischen Wien und Berlin. Felix kennt keine Geldsorgen, weder in Wien noch hier. Hier verdient er bei VEB Waschmittelwerke Genthin, erschreibt über WOK und Fewa. Er fragt, ob ich einen Auftrag will, er meint, mir fällt bestimmt was ein. Wollen ist Schaffen oder umgekehrt. So sagt er. Er ist älter als der Seminarassistent. Er könnte unser Vater sein. Für das Hauptfach schreibt er lange Geschichten mit genauen Personenbeschreibungen und Dialogen. Ich finde seine Geschichten wunderbar. Unserem Assistenten, Dr. Schubert, gefallen sie wahrscheinlich nicht. Er sagt, man muss sehen. Und schweigt dann ausführlich.
Ludwig Zweig schreibt ebenfalls ausgezeichnet. Er kann, zur Freude von Schubert, verfremden, denn er beherrscht den V-Effekt. Überzeugend, wie in Ihrer Geschichte die Dialektik grinst, sagt Schubert. Ludwig kommt aus der Hauptstadt Berlin, seine Mutter arbeitet als Objektleiterin in einem Lampengeschäft. Studieren oder trainieren, das war für Ludwig die große Frage. Er ist sehr gut auf der langen Strecke. Union Berlin wollte ihn als Läufer, wenigstens für die Mittelstrecke, haben. Er hat einen langen Atem. Schon als Kind hat er dicke Hefte voll Geschichten geschrieben. Viele Seiten, von oben bis unten gereimt. Es ist gut, dass er sich nicht für die Leichtathletik entschieden hat, sondern für die Kunst. Ludwig ist ein Gewinn für unsere Seminargruppe. Oft muss ich über seine Einfälle lachen.
Siegfried Müller kann alles. Er liest und lernt mehr als jeder andere, baut für seine Geschichten eine tragfähige Fabel mit einer Exposition, spannt in der Mitte, knüpft einige Knoten und kommt dann zu diesem oder jenem, meist tragischen Schluss.
Leicht sein ist schwer, kommentiert Schubert. Und wiederholt: Man muss Hegel lesen, um Ernst Bloch zu verstehen.
Wir stürzen in die Bibliothek, um uns Hegel zu holen, zuerst die Ästhetischen Schriften, nach und nach das Weitere. Wenn ich etwas Geld habe, will ich mir von Ernst Bloch
Subjekt-Objekt
kaufen.
Siegfried kommt aus Neuruppin, man kennt ihn deswegen in der Mensaküche. Die Neuruppiner essen keinen Blumenkohl, und es gibt oft Blumenkohl. Ich esse Blumenkohl mit Kartoffeln sehr gerne. Siegfried sagt: Blumenkohl riecht wie Neuruppin. Es ist der Geruch der Rieselfelder rings um die Stadt, der Nebel, die Kohlweißlinge, Raupen, das alles. Jetzt wohnt er mit seiner Frau und dem Kind im Neubau östlich der neuen Stalinallee, also genau in der Mitte. Er hat Ludwig Zweig und mich neulich eingeladen. Seine Frau war noch auf Arbeit und der Kleine noch in der Krippe. Siegfried hatte für jeden zwei Pfannkuchen gekauft, dann haben wir an einem Rauchtisch gesessen und Wodka gekippt, Siegfrieds Schreibtisch müsstest Du sehen, er ist riesig und aus dunklem Palisander, er sagt: Die Möbel hat er vom An- und Verkauf, auch ein Leninkopf auf dem Schreibtisch kommt aus dem An- und Verkauf-Geschäft. Bücher, mindestens einen Meter Marx-Engels, alles Sachen von einem Republikflüchtling.
Aber Siegfrieds REMA Trabant ist das Neueste, ein Radio wie ein kleiner Koffer. Ein Kofferradio. An der Stelle, wo der RIAS sendet, kleckst auf der Radioskala ein Punkt wie ein schwarzer Fliegenschiss. Es ist Ölfarbe. So hat Siegfried den Sender gekennzeichnet, damit ihm nicht das Gleiche passiert wie uns. Wir wissen ja nie, ob die Musik, die wir hören, von drüben kommt. Oder das Wort. Siegfried jedoch lebt in Sicherheit, er richtet sich nach dem schwarzen Klecks, er kennt die Stelle, er dreht schnell drüber
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