Sepp und seine Bande
Willem ihn belauerte; aber Sepp achtete nicht darauf. Er benahm sich so, als sei der Dicke Luft für ihn.
Und weiter darüber nachzudenken — dazu blieb Sepp auch keine Zeit mehr, denn kaum saß er, als auch schon Dr. Pöttgen mit seinen langen Storchenbeinen ins Klassenzimmer stakte.
„So, Jungs, Hefte heraus! Laßt mal sehn, was ihr zusammengebracht habt.“
Die Schlösser der Schulmappen und Aktentaschen klapperten, als die Schüler ihre Englischhefte her-ausnahmen und auf ihren Pulten aufschlugen.
Bevor der Studienrat seinen gewohnten Rundgang durch die Pultreihen antrat, fragte er:
„Hat auch keiner seine Aufgaben vergessen?“
Einige brummten „nein“.
„Wer seine Aufgaben nicht gemacht hat, der meldet sich besser sofort!“
Niemand meldete sich — ein Fall, der nicht allzu häufig vorkam. Irgend jemand hatte immer eine Ausrede — warum und weshalb und wieso.
Wohlgefällig glitt der Blick des Lehrers über seine Schüler hinweg. Sie saßen alle aufrecht auf ihrem Platz, die Hefte vor sich.
Alle? — Nein, halt! Einer hatte seinen Kopf noch halb unter dem Pult stecken und wühlte in seiner Mappe herum.
„Dallmayer!“
Das Gesicht des Lehrers sah gar nicht mehr so freundlich aus.
„Dallmayer!“
Erst jetzt tauchte Sepp aus der Tiefe auf. Sein Kopf glühte tomatenrot.
„Ja, bitte, Herr Studienrat?“
„Zeig mir mal deine Aufgaben!“
„Ich — ich kann sie nicht finden“, stammelte Sepp verlegen.
„So, du kannst sie nicht finden...“
„Nein, Herr Doktor.“
„Sag doch lieber gleich: Ich habe die Aufgaben nicht gemacht.“
„Nein, ich habe sie gemacht!“ widersprach Sepp heftig. „Eben habe ich das Heft noch in der Hand gehabt.“
„Dann müßte es auch noch da sein. Also, wo ist es?“
Sepp hatte den gesamten Inhalt seiner Mappe vor sich auf dem Pult ausgeschüttet — aber das Englischheft blieb verschwunden.
„Es — es ist nicht da!“
Der Lehrer nickte, als habe er keine andere Antwort erwartet, und forschte weiter:
„Hattest du nicht auch noch eine Strafarbeit abzuliefern?“
„Ja.“
„Hast du wenigstens die geschrieben?“
„Ja, Herr Studienrat.“
„Na, dann zeig mal her!“
Sepp würgte und hatte auf einmal selbst das Gefühl, daß seine Erklärung unglaubwürdig klang, obwohl sie der Wahrheit entsprach.
„Ich — ich — die Strafarbeit ist auch nicht da. Aber ich habe sie wirklich gemacht, Herr Doktor! Es waren vier lose Blätter. Ich habe sie zu Hause ins Englischheft gesteckt — und vorhin in der Pause, als ich das Heft in der Hand hielt, da lagen auch die losen Blätter noch drin.“
Der Lehrer stand jetzt dicht vor dem Schüler und musterte ihn mit durchdringendem Blick: Sprach Sepp die Wahrheit — oder log er?
„Wer hat das Heft gesehen?“
Diese Frage hatte Dr. Pöttgen an die Klasse gerichtet, doch niemand meldete sich. Alle schwiegen eisern, als säßen sie auf ihrem Mund.
„Ich habe es wirklich vorhin in der Pause aus meiner Mappe genommen und wieder hineingesteckt!“ beteuerte Sepp von neuem.
Trotz seiner Verwirrung entging ihm das schadenfrohe Grinsen nicht, das sich in Willems Miene spiegelte, und wie ein Blitz durchfuhr ihn die Erkenntnis:
Der dicke Willem hat mir das Heft geklaut! Er hat vorhin beobachtet, wie ich es aus der Mappe genommen und danach wieder hineingesteckt habe. Und als ich zum Papierkorb gegangen bin, da hat er die Gelegenheit rasch ausgenützt und mein Heft aus der Mappe herausgezogen und — er stockte in seinen Überlegungen — ja, wo hat er es hingetan? In seine eigene Schultasche? Bestimmt nicht! So dumm ist dieser Kerl sicher nicht...
Und als ahne der dicke Willem die Gedanken des andern, wurde die Schadenfreude in seinem breiten Gesicht noch unverschämter.
Na, such nur ruhig bei mir, du Dummkopf! schien der dicke Willem mit seiner höhnischen Miene ausdrücken zu wollen.
Nein, bei dem finde ich mein Heft niemals, überlegte Sepp weiter. Wer weiß, wohin er es hat verschwinden lassen... Der hat bestimmt seine Freunde mit eingespannt — die halten doch zusammen wie Pech und Schwefel, wenn’s gegen mich geht. Mein Heft kann in der Schulmappe von jedem stecken — oder sonstwo... Wenn ich jetzt den dicken Willem öffentlich beschuldige, dann verdächtige ich alle — und beweisen kann ich nichts, und deshalb würde mir der Lehrer auch nicht glauben...
Diese Gedanken schossen Sepp durch den Kopf, als ihn der Studienrat unterbrach.
„Ob du die Aufgaben und die Strafarbeit nun gemacht hast
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