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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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Hochstrecke zerschnitt die mächtigen alten Kaiserreich-Gebäuderegelrecht man fuhr auf Fensterhöhe hindurch dann ging ich mit Martin und Lotta auf die erdrückende Front des Pergamonmuseums zu die links und rechts von den Seitenwänden der anderen Museumsbauten eingeschränkt wurde und dieses Zugemauert-Sein oder drohende Eingeschlossen-Werden von grauen Steinwänden erinnerte mich an Böcklins Toteninsel (die stehende weiß verhüllte Gestalt auf dem Nachen ist so entsetzlich weil sie steht und dir die Frage aufzwingt ob alle Toten so vollkommen verhüllt und heroisch gefasst auf die Insel fahren müssen die kaum Platz für einige Dutzend von ihnen zu bieten scheint)
    Hitler
    sagte mein Vater
    kaufte 1933 das Bild und hängte es in seinem Haus in Berchtesgaden auf
    hätte ich besser nichts gesagt dachte ich dann hätte mir niemand ein Hakenkreuz auf den Fels der Toteninsel gesprüht und ich sah nicht dass Martin seine Bemerkung bedauerte
    »echt« bedauerte
    erklärte mir Lotta meine verständnisvolle blonde herzliche sinnliche oft so »aufgekratzte« deutsche Cousine als wir an der Garderobe des Pergamonmuseums standen es war nicht so arg wie sie glaubte schließlich bin ich es gewohnt dass mein Vater dem Deutschtum immer auf den deutschesten Deutschgrund gehen muss und so war es auch jetzt bald wieder denn anstatt sich in den Anblick des großartigen Altars des Markttors von Milet und der Löwen und Drachen auf den blauen Kacheln der wiedererrichteten babylonischen Prozessionsstraße zu vertiefen blätterte und las er in einer Broschüre die von der Orientexpedition zu Kaiser Wilhelms Zeiten berichtete (dass ausgerechnet die Deutschen die große Rolle Babylons wiederentdeckten und die Fundamente und Ruinen der Stadt in achtzehnjährigen Grabungsarbeiten freigelegt hatten faszinierte ihn erwartungsgemäß)
    durch ein Fenster in einer Flurwand der zweiten Etage des Museums konnte ich ihn von oben herab in den Ausstellungsräumen beobachten (die Besucher promenierten auf einem langen Gang oder in einer Folge von hohen schmalen ineinander übergehenden Korridoren) er näherte sich noch einmal dem Ischtar-Tor und folgte dann der Prozessionsstraße bis zu einer Vitrine und Lotta kam langsam von rechts auf ihn zu
    sie blieb bei ihm stehen und ich dachte plötzlich
    dass sie ebenso gut seine Tochter sein könnte wie ich dass sie
    ich sein könnte
    und ich verspürte zugleich eine Bedrückung und die Ahnung einer großen Erleichterung in Museen kann mal leicht solche
    extraterrestrischen Gefühle
    haben es ist die leichte Begehbarkeit von so vielen Epochen und Kulturräumen
     
    dann steht die Zeit
    still vor unserem Raum / vor unserem Zimmer –
     
    in einer Außentasche meines Rucksacks finde ich mein Reise-Notizbuch und schreibe und gleite ab in die Erinnerung an mein eigenes hastiges Babylon mit Eric an diesem Vormittag es ist gut es aufzuschieben für einen Tag eine Nacht mit genügend (also beliebig viel) Zeit
     
    wild nights
    should be
    our luxury
     
    in Los Angeles werden wir die Wohnung eines Freundes von Erics Bruder ganz für uns alleine haben ich kann aber auch zu meinen Großeltern
    fliehen
    wenn ich möchte ich sollte sie ohnehin in Palo Alto besuchen ich habe Eric von Cynthias Apfelkuchen vorgeschwärmt und möchte auch dass er das Zimmer sieht in dem ich so viele Ferienwochen mit meinen Büchern verbracht habe in einer vergangenen Einsamkeit die mir jedoch genau in dem Moment kostbar und seltsam beschützenswert erscheint in dem ich sie verliere
    dabei ist es viel zu früh schon alles mit Eric
    auszukurieren (ist es das: die Vergangenheit heilen
    mit einem Menschen
    in der Gegenwart)
    du kannst dich doch gar nicht so sehr beklagen
    Prinzessin
    die Jahre die du allein im Bett schliefst allenfalls gequält von einem imaginären König und einer Schwester die dich nicht sehen konnte sind bald vorüber niemand scheint viel darüber nachzudenken aber es ist doch so dass man (als Einzelkind) und als jemand der später dann Partner zu finden versteht die einsamsten Nächte in seinen ersten zwanzig Lebensjahren verbringen muss
    weshalb frage ich nicht Martin ob er meine Reise nach Kalifornien unterstützt weshalb habe ich bislang noch nicht einmal angerufen
    er würde es einfach nur gutheißen schließlich wollte er auch dass ich in Kalifornien (oder gar in Berlin) studiere
    meine Mutter wird mir mehr Widerstand bieten sie kann mir zeigen dass ich mich tatsächlich
    entscheiden muss und mir die Tür öffnen

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