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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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wir doch besser wissen sollen dass bei uns daheim anders abgerechnet wurde
    in unserem Blütenfrühling
    im Rahmen unseres tiefer liegenden machtlosen innigeren Lebens sind wir auch früher schon
    gewarnt und gezeichnet worden
    als ich siebzehn war
    so alt wie Muna jetzt unendlich weit entfernt käme es mir vor könnte ich heute meine ernst und komisch würdig sich aus der Kindheit schälende Jungengestalt dort sehen zwischen den alten Männern in ihren Dischdaschas vor einem Fernsehapparat in einem nachtblauen Café an der Raschid-Straße auf dem Monitor setzt man die Leiche des Präsidenten auf einen Stuhl jedes Einschussloch wird herangezoomt und gefeiert ein Soldat packt den Kopf an den Haaren und spuckt in das tote Gesicht das einmal auf rote und blaue Luftballons aufgemalt hoch vom Himmel herab zu uns Kindern gesegelt war das Gesicht des Der-Irak-zuerst-Mannes
    Abd al-Karim Qasim
    die alten Männer
    verzogen keine Miene ich sah die regungslosen Falten der Stirn der Wangen des Halses meines Großvaters als hätte er sich in ein ausgestopftes Kamel verwandelt hochmütig und grausam infolge des jahrzehntelangen Studiums der Schriften in seinem Haus dachte ich aber er hatte sich nur schon seit langem geschützt mit einem ledernen Einband selbstdas Gesicht war verschlossen wie mit einer Patte wie der Schnitt der alten Koranexemplare aus Afrika die er besaß es ging darum sich der Furcht zu entziehen nicht auf den Schrecken zu reagieren sich dem
    Theater der Grausamkeit
    nicht zu beugen sei es im Schwarzweiß der Elektronenröhren inszeniert sei es im Blutrotocker der unglaublichen Wirklichkeit
    die Erhängten auf dem Tahrir-Platz
    sahen wir Jahre später in einer Pariser Vorstellung in den gleichen verwackelten fehlfarbenen Handkamerabildern wie die Kriegsaufnahmen aus Kambodscha in einem Schaufenster bei der Gare de Lyon flankiert von Monitoren auf denen Asterix der Gallier kämpfte als befände sich unser Land auf einem lichtschwachen Witz-Planeten auf dem noch wirklich gestorben wurde weshalb man ihn nicht so deutlich zeigte etwa die comichaft unglaubwürdig in die Länge gezogenen Hälse der selbstredend zionistischen Verschwörer die Brücke tauchte auf über die wir ungezählte Male zum Platz der Befreiung gegangen waren angeblich sollten sich Zehntausende versammelt haben vom Radio aufgerufen mit Bussen herangekarrt um das Fest zu genießen
    nur der Auftakt behauptete Ali nur einige spektakuläre Picknick-Morde fürs Volk was wir nicht sehen ist viel schlimmer Ali dessen vornehmer Pharaonenkopf auf dem hageren Torso eines Mittzwanzigjährigen in T-Shirt und Levis-Jeans irgendwie tröstlich wirkt als könnte man alle möglichen Zeiten miteinander versöhnen und anfassen wie einen Freund seit 1968 regierte die PARTEI und es gab
    Bildschleier und
    Wortschleier
    Instrument der Sehnsucht Amt für Öffentlichkeitsarbeit Spezieller Dienst der Tod hatte einen Palast errichtet in unserem Land der für die Wollust die Protzigkeit den ornamentalen Luxus die Prasserei und Maßlosigkeit des Mordens stand
    Schleier des Vergessens des Unglaubens der Sehnsucht der Hoffnung des blinden Muts
    immer wieder muss ich mir erklären wie wir
    nach sieben Jahren Paris (vier Jahre nach jenen Lynchmorden)
    im Sommer 1974 an den Flughafen Orly fahren konnten um die Heimreise anzutreten
    Farida im sechsten Monat mit einem abgewetzten Lederkoffer in der Hand in einem blauen Mantel eine weiße Spange im Haar 25 Jahre alt so seltsam
    unangreifbar vollkommen ruhig
    so zuversichtlich dass uns nie etwas geschehen würde (uns dreien) es war ja auch so ich kann es nicht begründen es war nur die blödsinnige noch unangetastete in unglaublichem Leichtsinn auf die eigenen Kräfte vertrauende Weltgewissheit von Ahnungslosen mit noch nicht einmal dreißig Lebensjahren das dürre Tarik-Ich frisch approbiert wie sein Kindheitsfreund Ali der als Kinderarzt arbeiten wollte und zwar gleichfalls in Bagdad es war (zwischen den lärmenden Kindern den noch pariserisch aufgemachten irakischen Frauen den Pyramiden von Koffern Paketen zusammengeschnürten und wie Folteropfer mit Plastikfolie und Klebebändern unkenntlich gemachten nein bloß aufprallgeschützten Bündeln mit kostbaren Fundstücken der Beutezüge in Supermärkten Elektrogeschäften Einrichtungshäusern) die Zeit des schwarz aus der Erde schießenden Geldes der heroisch verstaatlichten Ölindustrie dem großen Lotteriegewinn des OPEC-Boykotts der modernen Wohnblocks Autobahnen Schulen

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