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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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Garage der Nachbarn von gegenüber gesprengt hat (ausgerechnet die eines höheren Polizeibeamten) ob die Sache nicht viel ernster werden könnte ich halte ein physikalisches Lehrbuch in den Händen vor dem geöffneten Rucksack ich muss mir ernste Gedanken machen es ist ja auch das was ich am MIT gesucht habe diese andere Entschlossenheit (keine Designerkostüme und Nadelstreifenanzüge aber auch keine energisch auf ihren schwarzen Drahteseln strampelnden Professoren in senffarbenen Cordjacketts mit Ledertaschen voller Bücher) die Erde verstehen als geophysikalisches System als Klimasystem als Planeten im Weltall
    die grundlose Bläue über dem Strand
    als Ort der Auseinandersetzung von Atmosphäre Festland und Ozean höre lies Geophysik Geochemie ich muss Differentialgleichungen II belegen und Nichtlineare Dynamik I : Chaos und mich anmelden für die Exkursion im Spätjahr
    das Physikbuch sinkt wieder auf den Tisch und mit der Erleichterung kommen sofort die Skrupel auf ich muss
    mich lösen das ist nur ein Urlaub und eine Liebe und eine
    Frage
    wie es begonnen hat mit National-Geographic-Magazinen mit zunehmend schwerleibigeren Büchern (Schnitte durch das Tortenprofil der Erdkruste Reliefdarstellungen des Meeresbodens von Isobaren marmorierte Luft) die lange auf einer einzigen mit Formeln und Diagrammen gespickten Seite liegen bleiben und mich
    beruhigen
    es ist mehr wie eine Meditation über einen kurzen Text es sind nicht dieseBücherstapel auf Bücherstapel wie in Martins Arbeitszimmer oder die Phalanx von schnell gezogenen benutzten wieder in Reih und Glied gestellten Aktenordnern Amandas es flößte ihnen Respekt ein wenn ich mit der Erde still an einem Tisch saß oder im Garten aber
    nicht mehr mit
    ihnen gemeinsam
    in Amherst war es mein Vater allein der sich anerkennend wunderte wenn er von der Arbeit kam und mich nicht Musik hören oder Romane lesen oder in meinen Kladden Gedichte schreiben sah eben das was man von mir erwartete als Literaturprofessoren-Tochter aber
    Schahrasads Vater
    war der Wesir eine Art Politiker mithin eher jemand wie Seymour (der Berater) der sich nur freut wenn er mich mit der Geologie ertappt und wissenschaftliche Gespräche mit mir führen will so dass ich mich (ungewollt mittlerweile) in die arabische Prinzessin verwandle zu Boden blicke in mein Zimmer gehe den Fernseher anschalte und Gedichte herauskrame den Fernseher ausschalte das weiße Land Papier in das ich fliehe
    (in dem ich
    von oben her
    erscheine
    in seltsam gewundenen kurzen Tintenflüssen) öfter schreibe ich auch am PC die weiße Fläche der gestanzte Druck das Schnurren der Festplatte während ich Worte suche ein Schutzpolster mit dem du die Leere betrittst ich bin also
    eine Dichterin am Meer (ach was: die störrische Prinzessin die Verse sucht)
    oder die scheue Tochter
    die durchaus einen keuchenden Jungen in ihrer Hand zucken lassen kann
    von der Jones Library kommend in der ich so viele Kindernachmittage verbracht habe mit einem wissenschaftlichen Folianten als Brustwehr ging ich nach meiner Rückkehr zu Martin zwei Jahre lang so siegesgewiss durch Amherst als sei es schon eine Art
    Paradies
    der Ort eines ständigen verheißungsvollen Aufbruchs nämlich an dem man
    immer bleiben könnte immer steckenbleiben immer mit einem Lehrbuch im Arm durch die Amity Street zur Ecke Main Street – North Pleasant Street schlendern möchte durch die vor den Copyshops Pizzerien Buchläden beisammenstehenden Jungs von der UMass vom Hampshire- oder Amherst-College hindurch sie zerteilen wie ein Seepferdchen eine nervöse Koralle (ich fasse dich nicht noch mal an Robert vergiss es)
    ein Jahr mit festem Freund
    das letzte (mein achtzehntes) ohne David war noch besser weil ich blieb um zu gehen und mich spannen konnte wie eine Feder
    oder Nonne (Jeanne d’Arc) dreizehn Monate lange küsste ich niemanden
    jedenfalls bin ich im Bewusstsein des baldigen Aufbruchs viel energischer und leichter geworden (wie Martin als er wieder zu joggen begann) heller im Inneren wenn es so etwas gibt aber man sieht doch die Ausstrahlung auch bei anderen ich war frei weil ich demnächst zum Studium nach Boston ziehen würde ich wollte keinen Freund mehr der hier irgendwo mit einem Zimmergenossen in einem Wohnheim hauste (und dann reuelos und zum Ohrfeigen kalt mit einem größeren Stipendium nach Texas in die Nähe seiner Eltern zog) ich wollte nicht mehr
    die Professorentochter sein auf die man in den umliegenden Colleges schon wartete all die

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