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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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Lehrer die mich auf den Cocktailpartys auf den Schoß gezogen hatten und Deutsch sprechen ließen wie eine Puppe mit eingebautem Sprach-Wunderwerk
    auch an Emily wollte ich nicht mehr denken ich war in meinem letzten Amherst-Jahr nicht mehr im Homestead- oder Evergreens-Haus und nur noch ein einziges Mal an ihrem Grab die Idee die ich früher liebte
    im Verborgenen zu arbeiten
    1700 nie veröffentlichte Gedichte als Brief an die Welt nach deinem Tod zu schreiben und in einem Haus in West-Massachusetts zu leben als stünde es auf einem grasgrünen kleinen Meteor im
    Weltall
    der Zeit man spürt
    ich spüre
    nicht genug wenn ich mich nicht bewege nicht reise nicht gegen die Dinge stoße und so gesehen war es einmal (wird es einmal) von Vorteil für mich (gewesen sein) dass sie mir die Wurzeln herausgerissen habenals wir von Paris zurückkehrten begann ich zu bluten auf Long Island in New York City in den
    Gärten meiner Mutter
    gibt es keine Erde für mich aber es (das Blut) war ja auch ein Zeichen für das Älter-Werden das Frau-Werden ich fand das
    ruhelose Gedicht
    des Hafis
    schwarzes Wasser ewig ziehende Kamele schrillende Morgenglocken Pilger ohne Ziel
    den ich eigentlich nur las um meinen Vater zu beeindrucken und weil mir die arabische Schrift der zweisprachigen Ausgabe so geheimnisvoll erschien es waren zu viel Weinkelche zu viele Schenken zu viele Räusche darin
    der Rausch der Verzweiflung
    ist womöglich eine große Musik aber nicht für Siebzehnjährige die begreifen
    dass es ihnen nicht schlechtgeht ich wollte nicht mehr in Amherst bleiben und Emily Dickinson werden mir war klar dass ich die arabische Prinzessin verlassen musste
    den Karton mit meinen Gedichten beklebte ich mit zwei Postkarten passend orientalisch (eine Sängerin und ein Wein trinkender älterer Mann im Burnus) und ließ ihn in Amherst zurück
    in diesem Zimmer hier auf Long Island
    dem Rausch-Ort meiner Verzweiflungen in meinem dreizehnten und vierzehnten Jahr
    bin ich ohnehin nur noch zu Gast gewesen der Rucksack ist nur halb so schwer wie damals für die Europa-Reise im Wohnzimmer mit der großen Fensterfront zum Meer und den Dünen hin saß ich manchmal und hörte Musik und einmal schreckte ich auf und spürte ein schier blendendes Glück weil ich eine halbe Stunde neben meiner Mutter Amanda gesessen hatte wie aus Versehen vollkommen ruhig und frei
    Eric wird ganz sicher
    pünktlich sein
     
    Hedschra
     
    Verlass dein Haus, zerreiß dein Buch. Und geh!
    Zerstöre, was dich kennt und liebt. Und geh!
    Dein Herz ist ausgebrochen. Verbrenne es und geh!
    Dein Gott verlor den Namen. So töte ihn und geh!

 
    Muna
     
    An der weiß gekalkten narbigen Wand des alten Kinos verblasst seit Jahren
    der PRÄSIDENT
    dicht neben unserer Schule ist sein Schnurrbart zerfasert und das linke Auge scheint allmählich von einer Krankheit aufgezehrt zu werden
    aber wenn SEIN Name fällt (wie ein Schwert)
    klatschen wir
    wir singen es jeden Morgen aufgereiht in unseren blauen Kleidern und weißen Blusen er ist unser Vater der Schrecken den wir anbeten müssen dessen Name man nur singt nicht spricht nicht in den Mund nimmt wenn Nachbarn wenn Freunde wenn Jasmin und ihr Mann zu Besuch sind sagen wir nichts über den
    PRÄSIDENTEN
    ich verliere die Schwester die Sprache
    fehlt mir ich würde mich wahnsinnig
    schweigen hätte ich nicht Huda und Eren hinter den ockerfarbenen Mauern der Schule deren Eingang so nah an jenem Wandbild (eines von Millionen) liegt jeden Abend wünscht ER uns im Fernsehen
    GUTE NACHT
    als Drohung damit wir bloß nicht aufwachen in seinem Land sagt Tarik schau dir das Pferd an auf dem er sitzt sie haben es chloroformiert damit es ihn erträgt der PRÄSIDENT reitet winkend davon in die untergehende Sonne nach Westen also sagt Tarik denn heute Abend will er mit seiner Frau in London einkaufen gehen seit ich sechzehn bin redet er so mit mir und macht mir Angst damit und erfüllt mich mit Stolz zweimal im Jahr kommt Onkel Munir der die Elektrogeschäfte von Großvater weiterführt und befühlt jede Wand und jeden Schrank mit geheimnisvollenGeräten er sucht Ohren wir können das sagt Tarik eine Familie mit Spürsinn und so kann er weiter frei reden und mich stolz und traurig machen mich bestürzen und quälen mit seinen Witzen und seiner Verzweiflung bis Farida ihn beschimpft (wegen Sami sie spürt dass er mehr als ich die Stärke und die Gelassenheit seines Vaters braucht)
    das verstaubte Mosaik im Innenhof der Schule zeigte die Themse

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