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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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vom radioaktiven Zerfall vom Zerfall überhaupt auf ein Segelschiff wäre mehr Verlass als auf die elektrischen Leitungen das plötzliche Erlöschen der Notbeleuchtung das Zusammenstürzen der Fernsehbilder die Kühlschränke stumm wie so oft
    bei Stromausfall öffnen sich wieder die Vorhänge das Mittagslicht trifft das zerschabte Avocadogrün der Wände zwischen denen wir sitzen wie in einem Aquarium das keiner mehr reinigen will in unseren sauberen weißen Blusen und sorgsam ausgebesserten blauen Kleidern wir atmen auf denn vielleicht hätten wir noch einmal den sechsstündigen Spielfilm über SEINE Anfangsjahre sehen sollen Die langen Tage worin ER nicht mit der Wimper zuckt als man ihm ohne Betäubung die Kugel aus dem Bein entfernt die sich (laut Onkel Munir) nie darin befunden hat
    kein Strom kein Wasser für lange Stunden oft in mehreren Stadtvierteln
    die Englischstunde mit Frau Jadallah die seit zwei Jahren ein Kopftuch trägt und immer leiser spricht so als sei sie die ganze Zeit am Verschwinden ihr gesamtes Auftreten ist wie eine Entschuldigung für
    sich
    in der letzten Stunde versucht uns Onkel Machmud mit seiner eisern freundlichen Art seiner Aufmerksamkeit für jeden von uns seiner Beharrlichkeit und feinen Uhrmachergeduld die alten hocharabischenGedichte so nah zu bringen als glitte ein unbezahlbar edler Seidenstoff durch unsere Hände oder als dürften wir in aller Öffentlichkeit wunderwirksame Drogen einnehmen in der Hitze unseres Klassenzimmers zerfließen die Gedanken die Konzentration Huda fächelt sich Luft mit einem Gedichtband zu heute Mittag kann ich mit ihr nachhause gehen und vielleicht auch ihre Mutter im Nationalmuseum besuchen schon
    gehen wir Arm in Arm durch das Schultor am einäugigen PRÄSIDENTEN vorbei in den Nachmittagsbackofen der Stadt mit den gleichen weißen Spangen im Haar
    in dem alten roten Doppeldeckerbus der vielleicht einmal durch London gefahren ist trägt mehr als die Hälfte der Frauen Abayas BMO – Black Moving Objects sagt Sami die großen internationalen Hotels (das Sheraton das Palestine Meridian ) liegen rechts dann ruckeln die angrenzenden Luxusgeschäfte vorbei zerbeulte rot-weiße Taxis überholen einen nagelneuen aber wie für eine Filmkulisse irgendwie unglaubwürdig mit Staub überzogenen Mercedes wir schaukeln gegeneinander im Schweiß der Menge Hudas indische Augen verdrehen sich nach oben wenn uns die Blicke der Männer treffen oder sie absichtlich laut seufzen manchmal stößt sie vergnügt gegen mich um mich ihre runden Brüste und ihr Becken spüren zu lassen so wie sich die Jungen ihre Armmuskeln zeigen in unseren Trägerkleidern und durchgeschwitzten Blusen sind wir Laila und die Wölfe denke ich wer mit ihnen spielt braucht die eisernen Nerven die Intelligenz die Kühnheit die Arroganz
    meiner Schwester
    an der Ahrar-Brücke steigen wir aus rechts liegen die alten Moscheen und die assyrischen und chaldäischen Kirchen eingebettet in die großen Suks durch die wir manchmal bummeln heute Abend noch will Huda ein Armband für den Geburtstag ihrer Cousine kaufen aber wir gehen jetzt zur Karkh-Seite hinüber gönnen wir uns ein Scherbet sagt Huda was ich eigentlich nicht tun sollte hörte ich auf meinen Vater der mir jederzeit Vorträge über Milliarden und Abermilliarden von Mikroben in Wassereis hält aber ich habe schon viele Scherbets überlebt
    der heiße Abgasatem der gegen unsere Körper bläst wird auf der Brücke beiseitegeschoben von einem frischen Wind über dem Tigris und mir wird plötzlich so leicht zumute als könnte ich fliegen wenn ich es nur wollte mein Flight Simulator ist mein Kopf wenn ich nur die Augenschließe für einige Sekunden das Brückengeländer an meiner Hüfte ist die Reling das Meer liegt unter mir ich denke dass mir das immer bleiben wird
    die Träume die Bilder die Stille
    geh schneller sie hupen doch schon wie verrückt die Böcke sagt Huda und wir beschleunigen unseren Schritt

 
    Martin
     
    Vor der Gerbermühle
    im Sommer 2000
    die bierfarbenen Tische und Holzbänke unter den alten Bäumen am Main es gibt die Absicht das nur klotzig und gesichtslos wiedererbaute Gebäude historisch genau oder genauer zu rekonstruieren (wird man das Mühlrad wieder anbringen Willemers Studienkabinett neu einrichten Mariannes Gitarre stimmen und mit rosa Bändern verziert an die Wand hängen) es gibt Äppelwoi paniertes Schnitzel Kartoffelsalat Rindsroulade mit Kohl es gibt einen
    Grad von Realität gegen den der
    Gedanke nichts

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