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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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hilft (den er aber auch nicht mehr zerstören kann) etwa die vollkommen geisterhafte Vorstellung dass wir nun im 3. Jahrtausend leben (der Okzident und die von seiner Zeitordnung bestimmte Welt) gegenüber der lachend und kopfschüttelnd die Speisekarte studierenden zweifachen Wirklichkeit von Sabrina und Luisa auf der Bank mir gegenüber unter einem blau-weißen Sonnenschirm das völlig Unvereinbare Unverwandte ihrer äußeren Gestalt so dass trotz des Altersunterschiedes der Vertrautheit ihrer Gesten und der Nähe ihrer Körper kaum jemand auf die Idee käme sie könnten Mutter und Tochter sein und wir drei eine Familie obwohl wir zumeist Englisch sprechen wenn nicht gerade Sabrina auf Deutsch einen ihr unbekannten Ausdruck (gri Soß) von der Karte abliest und mich dabei fragend ansieht
    das Nicht-Zueinanderpassen freut mich es scheint mir die beste Chance für ein gutes gemeinsames Leben zu sein Luisa (das hochgesteckte blauschwarze Haar ihr großflächiges Gesicht die glühenden Goetheaugen (denke ich hier) der lange Hals über der schweren weißen Büste) könnte man für eine spanische Verwandte oder eine Lehrerin dieser jungenAmerikanerin halten die sich mit Hilfe einer sandfarbenen weiten Bluse einer hellbraunen Sommerhose dem immer wieder vor das Gesicht fallenden offenen Haar möglichst unauffällig zu machen versucht mit der Schamhaftigkeit oder natürlichen Abwehr junger Menschen die nicht ins Licht
    Blitzlichtfeuer der Zerstörung jeder Individualität jedes menschlichen Überrests
    gezerrt werden möchten
    die schmale Nase die Form der Stirn ganz leicht erkennt uns jeder als Vater und Tochter
    es wird nicht möglich sein
    sie zu retten indem ich unsere Ähnlichkeit vergesse
    Sabrina kann immer noch nicht glauben dass sie die Highschool wirklich hinter sich hat dass wir uns tatsächlich auf der versprochenen Europareise befinden dass sie als Nächstes nach Berlin fahren wird um dort ihre ältere Cousine zu treffen mit der sie weiter nach München Florenz und Rom reisen kann
    sie macht sich zerbrechlicher als sie ist
    dachte ich (in einem noch belanglosen noch völlig abstrakten Moment des Irrtums)
    sie kramt in meinem Rucksack blättert in meinen Büchern Marianne interessiert sie als dichtende als seltsam verlorene und doch aufgefangene Frau (das der Mutter abgekaufte Schauspielerinnenkind) ich unterdrücke den Impuls ihr zu erzählen wie der (ächzend Billette dichtende den Salontänzern wie ein ordensbekränzter Truthahn voranstolzierende) 74-jährige Geheimrat dessen Scherenschnitt Marianne nachtrauert bis ans Ende ihres blutleeren wenn auch nicht unvergnügten Lebens sich acht Jahre nach der orientalischen Gerbermühlenzeit in Marienbad aufschwang zum einzigen Heiratsantrag seines Lebens adressiert an eine Liebe in gerade einmal Sabrinas Alter
    Ulrike
    verblasst und glüht weiter als
    Elegie
    als Luftgestalt eines Mädchens das sich in eine junge Frau verwandelt Sabrinas Hände mit den unlackierten Fingernägeln blättern in dem Gedichtband als Kind malte sie die Nägel rot und silbrig und blau an sie warverrückt nach Schminke und Glitzer in jedweder Form einmal malte sie sich selbst als Prinzessin mit drei auseinanderstehenden Goldzähnen im oberen Kiefer
    sie hatte gerade einmal zwei kleine Zahnfüllungen sie trug nie eine Spange sie hat die Stelle gefunden sie liest leise und konzentriert so dass nur Luisa und ich es hören können (genau in der Mitte ihrer Daumennägel verläuft eine feine vertikale Linie eine Verfärbung die weder Amanda noch ich haben)
     
    Zephyr, for thy humid wing,
    Oh, how much I envy thee!
    Thou to him canst tidings bring
    How our parting saddens me!
     
    und Deutsch sagt Luisa und Sabrina zitiert Mariannes Gedicht im Original den Blick zunächst auf die Buchseite gerichtet so als übersetze sie es gerade dann sieht sie wenigstens bis zur Tischplatte auf Bier- und Apfelweingläser der strohfarbene gekühlte Riesling in einem Glaskrug mit grünem Stiel dessen Wirkung in meiner Blutbahn schon dort und damals die Szene vor der Gerbermühle vom Ort und aus der Zeit zu lösen schien (sie hinüberrettete in die Bleikammern der Erinnerung) Sabrina spricht weiter mit halb gesenktem Kopf während Luisa mich ansieht vergnügt staunend großzügig oder vielleicht auch (ein wenig) verzeihend (ein wenig) überlegen es mag sein dass ich die Indizien einer Konkurrenz nicht wahrhaben will zwischen Tochter und Geliebter Sabrinas Deutsch ist fast ohne Akzent insbesondere wenn sie etwas

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