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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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betreten in dem keine aufrichtige Begegnung mehr möglich ist sie suchte das Beste (für sich) sie wollte als Chemikerin arbeiten sie wollte ihre eigene Karriere
    sie bringt mit Kasim auch dessen uniformierte Freunde ins Haus die an der Tafel sitzen und Witze reißen über die alle Umsitzenden so vorsichtig lachen als kalkulierten sie Schachzüge bei einer Meisterschaft (ein Videoverleiher der Saddam-Reden als Pornos verkaufte und nie einen Protest erntete Bill Clinton und die Zigarre George Bush auf dem Fahrrad in Bagdad)
    Jasmin hat eine Ehe geschlossen die so genau das Richtige für sie ist dass sie nie damit zufrieden sein kann
    sie warf mir auf der Hochzeit keinen einzigen zweifelnden suchenden fragenden Blick zu als wollte sie mir sagen dass sie dieses Mal ohne den geringsten Schmerz verlorengehe ohne Träne ganz anders als damals
    ein Jahr nach dem Krieg
    ein halbes Jahr vor dem Krieg
    im Sommer 1990 brachten wir sie zum Flughafen
    eine Woche zuvor hatte es auch einen Witz gegeben einen falschen Witz unserer Nachbarin Amal über den
    UNAUSSPRECHLICHEN
    woraufhin sie für drei Tage verschwand und dann im Morgengrauen übersät mit blauen Flecken mit Verbrennungen von Zigarettenstummeln mit gebrochenen Fingern ausgeschlagenen Zähnen blutendem Schoß aus einem Auto vor die Tür ihres Hauses geworfen wurde
    neue Schulen neue Kindergärten neue
    Frauen für die Miliz
    noch schien es Geld zu geben noch war es möglich von Bagdad aus nach Paris zu fliegen
    jener Abschied
    bei dem die 16-jährige Jasmin glaubte er sei für zwei oder drei Jahre während ich damals schon hoffte er dauere zehn
    fuhr mir in die Glieder ich habe mich niemals (auch nicht in den Kriegen) schwerer langsamer ohnmächtiger gefühlt mir war als trüge ich eine eiserne Rüstung die mir den Atem abpresste ich wusste dass wir alle hätten gehen sollen die ganze Familie
    aber ich war nicht klar und entschieden genug es gab Anteile die nach Paris wollten mit der ihre Tränen niederkämpfenden und dann noch einmal knapp und fröhlich winkenden Jasmin und es gab Anteile die
    hierbleiben wollten
    versinken
    überleben aushalten im Aushalten gewinnen wollten ich sah (als wäre es ein Grund für das alles und auch der bestmögliche) Faridas müdes und doch so anziehendes Gesicht und hinter ihr gerahmt von Fayencen mit Nachahmungen oder Kopien sumerischer oder assyrischer Keilschrift (du wirst mir das einmal genau erklären Muna) den
    SCHLÄCHTER
    als blöde Nachahmung Nebukadnezars dem er folgen wollte bis zur Zerstörung Jerusalems
    an der Wand erschien eine Schrift die nur ich lesen konnte
    es war eine kleine Botschaft der Zukunft für mich für dich Muna nämlich dass ich es nicht noch einmal schaffen würde eine Tochter im Ausland studieren zu lassen
    und wir drehten uns um an diesem warmen Abend im Mai nahmen eines der rot-weißen Taxis und stiegen vor unserer Straße aus um noch zu bummeln in dem Schock und Glück über die Abreise Jasmins und ich kaufte verzweifelt und glücklich zwei Kinderfahrräder für das Geld
    das ich heute in einem Monat verdiene
    elf Jahre ist es her dass wir in der Nachbarschaft des halbtoten Botschaftsviertels den englischen Club besucht haben und Cocktails tranken die Clubs sind bankrott die ehemaligen Luxusboutiquen mit Brettern vernagelt nur an der monströsen Baustelle der Rahman-Moschee herrscht Leben mit ihren anschwellenden Außentürmen die unter ihren Kuppeln in jeder ihrer acht Seitenwände wiederum (shuttleartig bepackt trächtig wie eine Betonspinne) rundkuppelige zweistöckige Embryonalbauten tragen sollten die gewaltigste Moschee im Lande des
    GEWALTIGSTEN
    erbaut im verrotteten verwaisten einstigen Nobelviertel zur Bebauchpinselung der Ulama ich sehe
    durch die Scheibe eines Restaurants in der Jordan-Straße
    von links nach rechts zuckende Schrift wild gestikulierende TV-Reporter
    die Feuer- und Trümmerwolke die aus den Wolkenkratzern hervorquillt wie blühendes Mark aus dem Stängel einer Blume hinter dem Glas eines Bildschirms auf der Theke eines Restaurants am Nisur-Platz ein Wolkenkratzer ein zweiter brennender Turm ich sehe durch das Fenster wie
    in den geöffneten Schädel eines Irren
    es ist das World Trade Center beide Türme brennen und ich wende mich ab für eine Sekunde als könnte ich es ausblenden
    ich stehe aber schon im Restaurant inmitten der Männer dicht vor der Mattscheibe ich habe nicht bemerkt wie ich hineingekommen bin undwerde später oft denken ich hätte die Füße auch gar nicht

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