Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
Vom Netzwerk:
wohltuend dem alten Haus in Betawiyn für einen Abend entronnen zu sein
    obgleich ich auch dort (neuerdings)
    dieses schwebende überwirkliche verrückt leichtsinnige Gefühl habe dass mich hier zwischen den festlich angezogenen Menschen überkommt es hat schon damit begonnen dass ich allein mit Sami im Taxi durch die Dunkelheit fuhr vorbei an den Lichtern der Abu Nuwas im Gedränge von hupenden Autos besetzt mit singenden lachenden Menschen drei Hochzeitsgesellschaften dicht hintereinander so ausgelassen als würden sie über den Tigris gleich in ein anderes Land oder Leben fahren erst am Damaskusplatz wurde es ruhiger und im vornehmen Mansur wo wir rasch vorankamen um dann in Andalus vor diesem vierstöckigen modernen Apartmenthaus zu halten ich bin es nicht gewohnt
    mit einem Glas Sekt in der Hand in einem kurzärmeligen knielangen Kleid unter Gästen zu stehen
    meine Schwester
    der schöne Falke mit dem amethystfarbenen Gefieder sticht mich natürlich aus und auch die meisten anderen Frauen in kurzen Kleidern und Kostümen darunter einige mit blond oder rot gefärbten Haaren ich bin plumper kräftiger ungelenker als Jasmin und
    schwebe doch
    es ist als könnte ich einfach nicht den Boden berühren einmal träumte ich man hätte mich mit Helium gefüllt gewaltsam aber jetzt ist es nur der Sonnen-Auftrieb
    der Liebe
    auch Sami mit seiner schwarzen Hose und dem besten dunkelgrauen Hemd meines Vaters sieht froh und gelöst aus es wird ihm wie mir gefallen (und wie es erst Tarik gefiele!) kein Olivgrün und kein Khaki zu sehen keinen einzigen Militär keine Uniform wenigstens es scheint also als hätte Jasmin ein Jahr nach ihrer Hochzeit die Pranke des Majors von ihrem zarten sehnigen Hals lösen können sie wirkt fröhlicher erregter manchmal sogar auch verlegener als damals wenn sie die Gäste begrüßt und bewirtet gemeinsam mit dem eigens dafür angestellten chaldäischen Ehepaar das früher einmal ein Restaurant betrieb und jetzt für das Buffet die Häppchen und die Getränke (erlesene Säfte türkisches Bier irakischer Arak französischer Wein schottischer Whisky usf) sorgt
    mein Schwager hat einer hoch toupierten fülligen Dame erklärt dass ich mich für Archäologie und alte Geschichte interessiere und das auch studieren möchte natürlich
    hier in Bagdad
    aber doch auch einige Semester in London sagte die Dame in ihrem kirschroten Kostüm das aus einem der Siebziger-Jahre-Modekataloge meiner Mutter geschnitten scheint sie redet laut ohne dass ihr jemand widerspricht sie hat eine geradezu obszöne Art ihren Körper nach vorn zu drängen etwa so als wollte sie sich im Hamam den besten Platz erobern und bräuchte sich keine Hemmungen aufzuerlegen weil sie ja nur von Frauen umgeben ist ich muss unwillkürlich denken dass sie sich zum Nachtisch auf den Lesesessel von Kasim setzen und dort aufquellen und sich spreizen wird ich kann nichts gegen meine Fantasie ausrichten ich bin so unheimlich und zerlegend
    wie ein Anatomieatlas und so verrückt wie
    Dinarasad es könnte ja doch sein (und dies würde vieles erklären) dass der König und die wunderbar erzählende Schwester und alle Geschichten die wir hörten nichts weiter als Dinarasads Erfindungen wären ich bin zu übermütig zu aufgeregt
    vor Glück
    aber die Lässigkeit und die Zuversicht an diesem Abend unter diesen eleganten Leuten hier (wohl größtenteils Ingenieure und Wissenschaftler aus der Dora-Raffinerie) beruhigen mich sie sind so anders als die Nachbarn in Betawiyn die sich immer schon unter den Peitschenschlägen einer nächsten Katastrophe ducken in einer Woche spricht Bush vor den UN und er wird uns neue Waffeninspektoren zum Versteckspielen schicken erklärt einer und ein anderer entgegnet egal was er schickt er wird es in zwei Hälften geteilt zurückbekommen
    ganz gewiss sogar in drei Hälften das ist
    irakische Arithmetik sagt meine Schwester im Vorübergehen rasch leise spöttisch funkelnd sie ist irgendwie aufgeladen aber man weiß nicht mit was sie begrüßt einen mächtigen dicken älteren Mann mit Schnauzbart der einen Sack trägt eine erschreckende
    aber ganz nervöse
    freundlich blinzelnde eher ängstliche
    Gestalt
    er nimmt ein Glas Wasser Kasim rückt ihm einen Stuhl auf die Schwelle der offenen breiten Tür zwischen Wohn- und Esszimmer Schweiß fließt über das runde und wie aufgeblasene Gesicht der tabakfarbeneLeinensack gleitet zu Boden der glänzend polierte Kokosnuss-Leib einer Ud kommt zum Vorschein die dicken runden Finger

Weitere Kostenlose Bücher