Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
Tagen war er auch ein Freund. An schlechten Tagen war sein ungehobeltes Benehmen so, als stolperte man auf einer Treppe. Es tat weh, aber man hatte stets das Gefühl, selbst daran schuld zu sein.
Trotzdem, ich hatte nur ihn.
Der rauschende Fluss unter mir, der Wind in den kahlen Bäumen, eine leise Melodie, die von den Tavernen nahe der Musikschule zu mir herüberwehte, das war alles, was ich hörte. Ich hatte die Arme um mich geschlungen, lauschte und sah zu, wie die Sterne allmählich am Himmel erschienen. Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen – sicher war es der Wind, der sie tränen ließ – und machte mich auf den Heimweg, dachte dabei an Orma und an jene Gefühle, die ich nicht zeigen durfte, an alles, was ich ihm verdankte und ihm niemals vergelten konnte.
Drei
D reimal schon hatte Orma mir das Leben gerettet.
Als ich acht Jahre alt war, hatte Orma eine Drachenlehrerin für mich angestellt, ein junges Mädchen namens Zeyd. Meinem Vater hatte es missfallen. Er verachtete Drachen, obwohl er der Berater der Krone in allen Angelegenheiten des Vertrags war und sogar schon Saarantrai als Anwalt verteidigt hatte.
Ich staunte über Zeyds Eigenarten: darüber wie knochig sie war, über ihr Glöckchen, das unablässig bimmelte, über ihre Fähigkeit, die schwierigsten Gleichungen im Kopf zu lösen. Von all meinen Lehrern – und ich musste eine ganze Heerschar erdulden – war sie mir die liebste gewesen.
Bis sie mich vom Glockenturm der Kathedrale werfen wollte.
Sie hatte mich unter dem Vorwand, mir Physikunterricht erteilen zu wollen, auf den Turm gelockt. Dann hatte sie mich, ehe ich mich versah, hochgehoben und auf Armeslänge über die Brüstung gehalten. Der Wind heulte in meinen Ohren und ich musste hilflos zusehen, wie einer meiner Schuhe in die Tiefe stürzte, von den Fratzen der Wasserspeier abprallte und dann auf die Pflastersteine des Kathedralenvorplatzes fiel.
»Warum fallen Gegenstände nach unten? Weißt du das?«, fragte sie so freundlich, als erteilte sie mir diesen Unterricht in meinem Kinderzimmer.
Ich war zu erschrocken, um zu antworten. Ich verlor auch meinen anderen Schuh und hatte Mühe, mein Frühstück bei mir zu behalten.
»Es gibt Kräfte, die uns alle beeinflussen, auch wenn man sie nicht sieht. Aber ihre Wirkung kann man voraussagen. Wenn ich dich vom Turm fallen ließe …« – hier schüttelte sie mich, und die Stadt drehte sich unter mir wie ein Strudel, der im Begriff war, mich zu verschlingen – »dann würdest du mit einer Beschleunigung von etwa zehn Metern pro Quadratsekunde fallen. Genauso wie mein Hut es tun würde, genauso wie deine Schuhe es getan haben. Wir alle werden gleichermaßen von unserem Verhängnis angezogen, alle mit der gleichen Kraft.«
Sie meinte die Schwerkraft – wenn es um bildliche Vergleiche geht, sind Drachen nicht sehr geschickt –, aber ihre Worte brachten etwas tief in meinem Inneren zum Klingen. Die verborgenen Faktoren in meinem Leben würden mich unausweichlich zu Fall bringen. Mir kam es vor, als hätte ich dies schon immer gewusst. Und es gab kein Entrinnen.
Orma tauchte wie aus dem Nichts auf und vollbrachte das Unmögliche. Er rettete mich, ohne als mein Retter zu erscheinen. Erst Jahre später verstand ich, dass dies eine Farce gewesen war, die die Zensoren inszeniert hatten, um Ormas Gefühle und seine Zuneigung zu mir auf die Probe zu stellen.
Diese Erfahrung hat in mir eine tief verwurzelte und durch nichts zu kurierende Höhenangst hinterlassen, aber verrückterweise kein Misstrauen gegenüber Drachen.
Dass ein Drache mich gerettet hatte, spielte dabei keine Rolle – denn niemand hatte sich zu diesem Zeitpunkt die Mühe gemacht, mir zu sagen, dass Orma ein Drache war.
Als ich elf Jahre alt war, kam es zu einem Zerwürfnis zwischen mir und meinem Vater. Ich hatte die Flöte meiner Mutter gefunden, die in einem der oberen Räume des Hauses versteckt gewesen war. Papa hatte meinen Lehrern untersagt, mich in Musik zu unterrichten. Aber er hatte nicht ausdrücklich verboten, dass ich es mir selbst beibrachte. Ich war ganz die Tochter eines Anwalts, ich fand immer irgendwelche Schlupflöcher. Wenn Papa bei der Arbeit und meine Stiefmutter in der Kirche war, spielte ich heimlich und brachte mir ein kleines Repertoire an Volksliedern bei, die ich halbwegs passabel vortragen konnte.
Als Vater in jenem Jahr zum Friedensfest, das am Vorabend des Jahrestags des Friedensschlusses zwischen Drachen und Menschen begangen
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