Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
Mauern der Burg verlassen durfte, und ich wollte mich dieses Vertrauens würdig erweisen.«
»Die Hochzeit meines Vaters, auf der ich gesungen habe«, sagte ich rau. »Ihr habt mir davon erzählt. Ich erinnere mich vage daran, Euch und Euren Onkel gesehen zu haben.«
»Es war ein wunderschönes Lied«, schwärmte er. »Ich habe es nie vergessen. Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn es jemand singt.«
Ich betrachtete seine Umrisse, die sich vor dem rostroten Himmel abzeichneten, und war sprachlos, dass ausgerechnet das Lied meiner Mutter ihn so tief berührte. Es pries den verliebten Leichtsinn und beinhaltete alles, dem er abgeschworen hatte. Ich konnte nicht an mich halten. Ich fing an zu singen und er stimmte ein:
Wohl dem, der ohne heißes Sehnen, Geliebte,
Unter deinem Fenster geht,
Nicht seufzt, nicht fleht.
Verloren hab ich Herz und Seel’,
Schau herab zu mir, mein Juwel,
Ein flüchtger Blick, ein Lächeln nur,
Und mein Herz schwingt gleich in Dur.
Erweise diesen Großmut mir.
Nimm mein Leben, ich schenk es dir,
Ich kämpfe, fechte in jedem Turnier
Nur für einen Kuss von dir.
»Ihr … singt nicht schlecht. Ihr könntet im Palastchor mitmachen«, lobte ich ihn. Ich musste etwas Unverfängliches sagen, um nicht loszuweinen.
Meine Mutter hatte genauso kompromisslos gehandelt wie seine, aber sie hatte fest daran geglaubt, hatte alles, was sie besaß, dafür gegeben.
Was, wenn unsere Mütter gar nicht die Närrinen waren, für die wir sie gehalten hatten? Was war Liebe wirklich wert? Hunderttausend Kriege?
Er stützte sich mit den Händen auf die Balustrade und lächelte. »Du hast gesungen. Und die Schönheit deiner Musik hat mich erfüllt, getröstet und erkennen lassen: meiner Mutter Weg war nicht nur verwerflich. Was sie trieb, war die Liebe, und die kann Verderben bringen. Aber sie war zumindest ehrlich und ich beschloss, es ihr in dieser Sache gleichzutun. Ich spürte, dass ich dazu bestimmt war, die Wahrheit hinter den Dingen ans Licht zu bringen, so wie mich die Schönheit die Wahrheit hatte erkennen lassen, das war meine Berufung. Ich fiel auf die Knie, dankte Sankt Clare und schwor, mein Gelübde nie zu brechen.«
Ich traute meinen Ohren nicht. »Schönheit und Wahrheit habt Ihr in meinem Gesang gesehen? Der Himmel hat einen wahrhaft entsetzlichen Humor.«
»Für mich hast du in diesem Moment genau das verkörpert. Aber mit dem Himmel hast du recht, denn wie sonst hätte ich in die jetzige verzwickte Lage geraten können? Ich habe ein Versprechen gegeben und es gehalten, so gut ich konnte, obwohl ich mich zugleich selbst belogen habe – möge Sankt Clare mir vergeben. Ich hatte gehofft, genau diese Falle vermeiden zu können, gefangen zwischen meinen Gefühlen auf der einen Seite und dem Wissen, dass ich jemanden, der mir sehr am Herzen liegt, verletze, wenn ich die Wahrheit laut ausspreche.«
Ich wagte kaum darüber nachzudenken, welche Wahrheit er meinte. Ich hoffte und fürchtete, dass er es mir gleich sagen würde.
Seine Stimme war dunkel vor lauter Kummer. »Ich habe immer nur an dich gedacht. Jetzt mache ich mir selbst Vorwürfe. Hätte ich Tante Dionne davon abhalten können, in Comonots Suite zu gehen, wenn ich nicht mit dir getanzt hätte? Ich war so begierig darauf, dir das Buch zu schenken. Wenn Dame Okra nicht gewesen wäre, hätten wir vielleicht nie bemerkt, dass Comonot den Ball verlassen hatte.«
»Vielleicht hättet Ihr beide aufhalten können, aber dann wärt ihr auf den Turm hinaufgegangen und hättet mit Lady Corongi auf das neue Jahr angestoßen«, wandte ich ein. »In diesem Fall wärt Ihr jetzt tot.«
Verzweifelt hob er die Hände. »Ich habe mich mein ganzes Leben lang bemüht, der Vernunft den Vorrang vor dem Gefühl zu geben und nicht so unüberlegt und verantwortungslos zu sein wie meine Mutter!«
»Ach ja, Eure Mutter und ihre abscheulichen Verbrechen gegen Eure Familie!«, rief ich, denn er machte mich wütend. »Wenn ich Eure Mutter im Himmel träfe, wisst Ihr, was ich machen würde? Sie auf den Mund küssen! Und dann würde ich sie mit an den Fuß der Himmelstreppe nehmen und auf Euch hier unten zeigen und sagen: Schau, was du angerichtet hast, du Teufel! «
Er wirkte entsetzt, aber auch ein wenig verblüfft.
Ich konnte nicht an mich halten und sagte: »Was hat sich Sankt Clare nur dabei gedacht, ausgerechnet mich als ihr unwürdiges Instrument auszuwählen? Sie hätte doch wissen müssen, dass mein Leben genau das Gegenteil von Wahrheit
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