Seraphim
rasend, und zwar nachdem Joachim offenbar einen Engel gesehen hatte.«
»Einen Engel ...« Katharinas Stimme verlor sich, und plötzlich war der Schmerz in ihrer Brust wieder da, heiß und entsetzlich. Matthias!
Sterner zog mit sanfter Geste seine Faust unter ihren Fingern hervor und umfing nun seinerseits ihre Hand. »Entschuldigt«, murmelte er. Sein Blick fiel auf die feinen Narben an ihrem Handgelenk, aber er sagte nichts dazu. Sie schloss die Augen.
Die Bilder vom Rabenstein blitzten jetzt in schneller Abfolge vorihr auf. Die Zähne, die nach ihr schnappten. Die weit aufgerissenen, irren Augen der Menschen. Die Hexenrufe. Die Menge, die sich wie ein Sturzbach über Joachim Gunther ergoss. Bertrams Schwert, das sich hob und senkte, hob und senkte ... Katharina riss die Augen wieder auf. »Was ist mit Joachim Gunther geschehen?«, fragte sie. Sie hatte Angst vor der Antwort.
»Die Meute hat ihn getötet.«
»Einfach so? Mit bloßen Händen?«
Sterner nickte. »Arnulf hat sich ein bisschen umgehört. Es ist erst wenige Stunden her, aber trotzdem gehen in der Stadt bereits eine Menge Gerüchte um. Es heißt, die Menschen hätten sich in Werwölfe verwandelt. Es heißt, Zauberer lebten unerkannt unter uns und würden uns einen nach dem anderen verhexen.«
»Unsinn!« Die Haare hingen Katharina wirr ins Gesicht, und ganz kurz dachte sie daran, dass sie furchtbar aussehen musste. Der Gedanke war so unpassend und albern, dass sie auflachen musste. Es war kein fröhliches Lachen, aber immerhin ein Lachen.
»Warum lacht Ihr?« Die Wärme von Sterners Haut übertrug sich auf angenehme Weise auf Katharinas Finger.
Sie schüttelte den Kopf. »Aus keinem besonderen Grund. Was geschah mit dem Henker? Ich kann mich daran erinnern, dass er mitten in der rasenden Meute stand.«
»Man weiß noch nichts Genaues. Es hat so viele Tote gegeben, und etliche von ihnen sind derartig entstellt, dass es eine Weile dauern wird, bis man Einzelheiten erfährt. Das ist übrigens auch der Grund, warum Ihr hier vorerst in Sicherheit seid. Solange nicht klar ist, dass Ihr nicht unter den Opfern seid, wird wahrscheinlich niemand nach Euch suchen.«
»Gut.«
Nachdenklich sah Sterner Katharina an, und sie spürte, dass ihm eine Frage auf der Zunge lag. Mit einem leichten Heben des Kinns gab sie ihm zu verstehen, dass er sie stellen sollte.
Er tat es. »Warum habt Ihr ausgerechnet nach dem Henker gefragt? Ich meine, es gibt Dutzende von Opfern, die Euch wahrscheinlich näher stehen ...« Er hielt inne, und seine Augen weiteten sich. »Ihr kennt ihn?«
»Ja.« Sie brauchte einen Moment, um sich Mut zu machen für das, was sie nun zu sagen hatte. »Er ist mein Stiefvater.«
Ganz kurz zuckte Sterners Hand, dann schlossen sich seine Finger wieder fest und warm um Katharinas, und ein tiefes Gefühl von Zuneigung zu diesem Mann durchflutete ihren ganzen Körper. Richard, dachte sie wieder, und sie fragte: »Es beunruhigt Euch nicht?«
»Was, dass der Henker von Nürnberg Euer Stiefvater ist?« Er schüttelte den Kopf. Sein Blick lag dabei mit solcher Intensität auf Katharinas Gesicht, dass ihr ganz warm wurde.
Auf dem Gang vor dem Zimmer wurden Schritte laut, hielten jedoch vor der Tür nicht an, sondern entfernten sich wieder. Irgendwo im Haus sprach jemand, aber es war nur ein entferntes, kaum zu verstehendes Murmeln. Draußen auf der Straße rumpelte ein Fuhrwerk vorbei, und ein Fenster wurde krachend zugeschlagen.
»Erzählt Ihr mir, wie es dazu kommen konnte?«, fragte Richard.
Katharina zögerte. »Nach dem Tod meines Vaters hat meine Mutter ihn geheiratet.«
»Einfach so?«
»Nein.«
»Ich war noch ein Kind, als ich Egbert zum ersten Mal begegnete«, begann Katharina zu erzählen. Sie konnte sehen, dass Richard sie fragen wollte, wer dieser Egbert war, aber sie hob die Hand, und er schwieg, um ihr zuzuhören.
»Egbert war damals ein junger Medizinstudent, und er kam nach Nürnberg, weil er einen guten Freund besuchen wollte. Martin, so hieß er, glaube ich. Ich begegnete ihm bei einem Kirchgang, und vom ersten Augenblick an war ich völlig vernarrt in ihn, was vielleicht auch daran lag, dass mein Vater einige Monate zuvor begonnen hatte, mich immer wieder zu verp...« Sie unterbrach sich. »Jedenfalls: Egbert war geschmeichelt von der Bewunderung einer Dreizehnjährigen. Er machte mir Hoffnungen, dass er mich zur Frau nehmen würde. Doch eines Tages war er einfach verschwunden, nach Antwerpen aufgebrochen, wo er zusammen mit
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