Seraphim
seiner Schwester wohnte. Isobel hieß sie.« Katharina strich sich eine Haarsträhneaus dem Gesicht. »Also lief ich fort und folgte ihm. Es war das letzte Mal für lange Jahre, dass ich meine Mutter gesehen habe.«
Die Erinnerung verursachte einen dumpfen Schmerz in Katharinas Innerem. Noch heute schämte sie sich dafür, ihre Mutter einfach im Stich gelassen zu haben. Und die Ereignisse, die ihrer Flucht gefolgt waren, machten es nur noch schwieriger, diese Scham auszuhalten.
»Mein Vater hatte eine Neigung zur Schwermut, schon immer gehabt, und als ich fort war und meine Eltern nicht wussten, ob ich noch lebte, da wurde aus ihm, einem starken Mann, ein krankes Wesen. Es half auch nicht viel, dass ich inzwischen Egberts Frau geworden war. Meine Mutter schrieb mir Brief um Brief, bat mich, nach Hause zu kommen, damit es Vater wieder besser ginge. Aber ich konnte nicht zurückgehen. Ich blieb einfach weg, und mein Vater starb.« Katharinas Stimme verstummte, und sie räusperte sich.
»Warum konntet Ihr nicht zurück nach Hause?«, fragte Richard. »Hätte Euer Mann nicht Verständnis gehabt, wenn Ihr Euren kranken Vater hättet besuchen wollen?«
»Hätte er.« Katharina hatte einen Becher entdeckt, der auf dem Nachtkästchen stand. Sie nahm ihn und trank einen Schluck daraus. Er enthielt Wasser. »Was ich damals nicht wusste, war, dass meine Mutter seit einiger Zeit an einer seltsamen Krankheit litt. Fieberschübe raubten ihr die Kraft ihrer Beine, so dass sie nicht für sich selbst sorgen konnte. Matthias, mein Bruder, kümmerte sich um sie, aber er hatte damals nur einen schlecht bezahlten Posten und konnte sich keinen Arzt leisten. Doch eines Tages musste er für seinen Arbeitgeber nach Augsburg reisen und lernte Bertram kennen. Er erzählte ihm von Mutters Krankheit und dass sie in ihrem Körper immer weiter voranschritt. Zu jener Zeit konnte Mutter ihre Beine kaum noch bewegen, und ihre Schultern drohten ebenfalls von der Lähmung befallen zu werden. Bertram kam mit Matthias nach Nürnberg, um Mutter zu untersuchen. Er fing an, ihre Glieder zu massieren und spezielle Bewegungen mit ihnen durchzuführen. Und irgendwie schaffte er es, den Fortgang der Krankheit aufzuhalten. Zwar erlangte Mutter die Kraft ihrer Beine nicht zurück, aber wenigstens die Arme blieben ihr. Durch die viele Zeit, die er mit ihr verbrachte,kamen die beiden sich näher. Schließlich willigte Mutter ein, seine Frau zu werden.«
»Die eines Henkers!« Richard fiel es sichtlich schwer, die Entscheidung von Katharinas Mutter nachzuvollziehen.
»Zu jener Zeit war er kein Henker, denn er hatte seine Anstellung in Augsburg kurz zuvor verloren. Auch darum war er mit Matthias nach Nürnberg gekommen, in der Hoffnung, hier einen neuen Anfang zu wagen.« Katharina senkte den Kopf. »Es war nicht so einfach, wie er gedacht hatte. Auch nach der Hochzeit bekam er keine Arbeit in der Stadt. Mutter und er mussten oftmals Hunger leiden, und das verschlimmerte ihre Krankheit wieder.«
»Was war mit Eurem Bruder? Hat er den Kontakt zu Eurer Mutter ebenfalls abgebrochen?«
Es schmerzte Katharina, von Matthias reden zu hören. »Ja. Er war zum Röhrenmeister befördert worden, und der Umgang mit meiner Mutter hätte ihm geschadet.«
»Aber eines verstehe ich nicht: Wie konnte er seine Verwandtschaft mit Eurer Mutter verbergen? Die Leute müssen doch gewusst haben, dass er der Sohn der neuen Frau Augspurger ist.«
»Das ist er ja nicht. Matthias war nur mein Halbbruder. Eigentlich ist er mit meiner Mutter gar nicht verwandt. Sie hat ihn nur großgezogen, denn seine eigene Mutter starb, als er noch klein war. Als die Stelle des Henkers hier in der Stadt frei wurde und Bertram sie annahm, konnte Matthias sich dadurch recht einfach von meiner Mutter abwenden.« Auf einmal spürte Katharina Tränen in ihren Augen. Wie lange hatte sie nicht mehr weinen können? Sie blickte auf ihre Hände, und ein Schleier ließ alles vor ihren Augen verschwimmen. »Kurze Zeit später kehrte ich nach Hause zurück, weil Egbert hier in Nürnberg zu tun hatte. Da erst erfuhr ich, was meine Mutter getan hatte, und obwohl sie versuchte, es mir zu erklären, obwohl sie mir ihre Gründe darlegte, so wie ich sie Euch soeben dargelegt habe, wandte ich mich mit Grausen von ihr ab. Mein Glück«, sie lachte höhnisch bei diesem Wort, »war, dass die Leute in der Stadt mich kaum noch kannten, denn ich war ja als kleines Mädchen davongelaufen. Zurückgekehrt war ich jedoch als Frau
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