Seraphim
Schließlich schüttelte er bedächtig den Kopf. »Nein. Wohl nicht.«
Mit einem Ruck stand er auf. Der seltsam schmerzliche Ausdruck in seinen Augen, den sie bereits beim ersten Zusammentreffen wahrgenommen hatte, war wieder da, und erneut weckte er ihre Neugier. »Ich sollte Euch jetzt besser in Ruhe lassen«, murmelte er.
»Warum flüchtet Ihr Euch vor mir?«, fragte sie.
Er wich ihrem Blick aus.
»Warum vertraut Ihr mir nicht?«
Unten im Haus wurden schwere Schritte laut. Richard wandte den Kopf zur Tür.
»Warum nicht, Richard Sterner?«
»Weil«, seine Stimme wurde ganz heiser, »weil ich Euch nicht alle meine Geheimnisse erzählt habe.«
Die Schritte kamen die Treppe hoch.
»Tut mir leid. Ich muss nachsehen, wer da gekommen ist. Ich bin gleich wieder bei Euch.« Er floh förmlich den Raum. Katharina hörte ihn auf der Treppe mit jemandem sprechen, aber sie konnte kein Wort verstehen, weil er die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte.
Als er wiederkam, trug er ein Schwert am Gürtel. Er wirkte sehr blass und erschrocken. »Ich fürchte, ich muss Euch für eine Weile verlassen. Geht es Euch gut genug, dass ich Euch allein lassen kann, oder soll ich den Doktor holen?«
Katharina versuchte, die Klinge zu ignorieren. »Geht ruhig! Ich komme alleine zurecht.«
Er lächelte ihr zaghaft zu, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Dann ging er.
Katharina lehnte sich in den Kissen zurück und starrte von unten auf das Bild über ihrem Bett. Noch immer konnte sie nichts darauf erkennen außer schwarzen Linien.
Sie schaute auf ihre eigenen Handgelenke.
Richard hatte erkannt, dass sie nicht nur in ihrer Kindheit zur Ader gelassen worden war, sondern auch später. Viel später.
Von Egbert.
Sie schloss die Augen, und diesmal stellte sie sich der Erinnerung, die sie im Lochgefängnis noch von sich gewiesen hatte.
»Katharina, du weißt genau, dass es sein muss, also zier dich nicht so!« Egberts Stimme klang streng, und er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt. Mit einer Geste, die in ihrer Heftigkeit beinahe zornig wirkte, griff er nach Katharinas Arm und zerrte ihn über die Messingschüssel. Das Skalpell in seiner Hand glitzerte im Licht der Kerzen, die er eigens für den Aderlass angezündet hatte, denn diesmal hatte er gewartet, bis Isobel des Abends aus dem Haus gegangen war.
Katharina konnte den Blick nicht davon lassen. »Es hat aber noch nie geholfen!«, protestierte sie.
Er sah sie von unten herauf an, durch die Haare hindurch, die ihm in die Stirn hingen. »Woher willst ausgerechnet du das wissen?« Es war noch nicht lange her, dass er begonnen hatte, so herablassend mit ihr zu reden. Wie mit einem kleinen Kind, dachte sie bitter. Dabei bin ich seine Frau. Und ich habe die Medizin studiert wie er, wenn auch nicht an einer Universität.
Sie presste die Lippen zusammen, und er seufzte. »Tut mir leid, Katharina! Es ist nur: Du bist in der letzten Zeit wirklich schwer zu ertragen mit deiner ewigen Heulerei und diesem widersinnigen Gefühl, für alles Übel ringsherum verantwortlich zu sein.«
Seine Worte brannten. Katharina hatte sich stets bemüht, in seiner Gegenwart nicht zu heulen. Auch wenn ihr die Tränen in die Augen gestiegen waren oder die Düsternis ihren Kopf ausgefüllt hatte, dass er bis zum Bersten damit angefüllt war: Sie hatte in seiner Gegenwart niemals geheult! Dass er es bemerkt hatte, wie sie heimlich weinte, und vor allem, dass es ihn wütend machte, tat weh!
»Ich habe dir den Grund für meine Traurigkeit erzählt«, versuchte sie sich zu verteidigen.
Er setzte die kalte Klinge auf ihre Haut, schnitt jedoch noch nicht. »Hast du.«
»Ich weiß, dass es schwer ist, es zu verstehen ...«
»Schwer? Es ist unmöglich, Katharina! Weißt du, was ich denke? Du solltest dich endlich ein bisschen zusammenreißen.«
So ähnlich waren seine Worte jenen, die ihr Vater ihr stets an den Kopf geschleudert hatte, dass ihr schon wieder die Tränen in die Augen schossen. Egbert biss die Zähne zusammen, dann machte er den ersten Schnitt.
Er nahm ihr zwei ganze Schalen voll Blut ab, und danach fühlte sie sich zu müde und zu schwindelig, um traurig zu sein. Ihre Lider drohten nach unten zu sinken. Die Geräusche, mit denen Egbert das Blut in einen Eimer goss und dann die Skalpelle in die Schale warf, klangen laut in ihren Ohren.
»Schlaf ein bisschen«, empfahl er ihr.
Dann ging er, ohne sie noch einmal berührt zu haben.
Zwei Tage später war er davongeritten und niemals
Weitere Kostenlose Bücher