Serenade für Nadja
Blicke über die Zuhörer schweifen. Augenblicklich verstummte das Flüstern.
»Merhaba!«
Sogleich erhob sich großer Beifall. Ich blickte ein wenig herum: Die Leute schienen schon jetzt von dem Mann beeindruckt, obwohl er noch nichts anderes getan hatte, als sie anzusehen und sie auf Türkisch zu begrüßen.
Der Professor sprach zunächst auf Türkisch weiter, etwas stockend und mit einem seltsamen, aber angenehmen Akzent.
»Es ist mir eine große Ehre, nach fünfzig Jahren wieder an der Universität Istanbul sein zu dürfen.«
Er vermochte das R nicht zu rollen, und man merkte auch, dass er seinen Satz ablas. Die Leute klatschten jedoch gleich wieder.
Danach sprach Wagner auf Englisch weiter und erzählte von den zwei Jahren, die er an der Universität verbracht hatte. Lobend erwähnte er die damals noch junge Republik, die fest entschlossen war, ihre Juristenausbildung westlichen Standards anzupassen. Daraufhin sagte er etwas, das mir zu Herzen ging.
»Bei Fjodor Dostojewski heißt es, der Mensch reife nur durch Leid. In diesem Sinne spielt Istanbul in meinem Leben eine sehr große Rolle, denn ich bin in dieser Stadt gereift.« Was genau er damit meinte, erläuterte er aber nicht. Vielmehr ging er zu einem ganz anderen Thema über. »Ich will aber nicht so sehr von der Vergangenheit, als vielmehr von heute sprechen. Zwischen der damaligen und der heutigen Welt bestehen große Unterschiede, doch ein grundlegendes Problem existiert weiterhin. Nach Ansicht von Professor Huntington, mit dem ich befreundet war, lässt dieses Problem sich als ein ›Kampf der Kulturen‹ bezeichnen, doch kann ich mich dieser Auffassung nicht so recht anschließen. Manche halten den Begriff ›Religionskriege‹ für zutreffend, aber ich bin auch nicht der Meinung, dass an der von mir gemeinten Auseinandersetzung die monotheistischen Religionen die Schuld trügen, die alle dem Nahen Osten entstammen und im Grunde die gleichen Prinzipien verkünden. Edward Said, mit dem ich ebenfalls befreundet war, lehnte sich gegen solcherlei Definitionen auf und sprach vielmehr von einem ›Kampf der Ignoranz‹. Es ist nämlich so, dass die grob gesagt als Okzident und Orient bezeichneten Zivilisationsformen einander schlicht und einfach nicht kennen. Zu einer Zeit, in der die globale Kommunikation solche Fortschritte gemacht hat, leben wir in dieser Hinsicht noch immer in der dschahiliyya .«
Nachdem der Professor den arabischen Begriff in den Raum geworfen hatte, mit dem die »Ignoranz« der vorislamischen Zeit gemeint war, blickte er kurz ins Auditorium. Dann fuhr er fort.
»Allerdings kann hier nicht von einer gleichmäßig verteilten dschahiliyya die Rede sein. Der Osten kennt den Westen ein wenig besser als der Westen den Osten. Statt eines Kampfes der Kulturen oder der Ignoranz sehe ich einen Kampf der Vorurteile. Da Sie diesen Begriff wohl zum ersten Mal vernehmen, möchte ich ihn gerne etwas erläutern. Sie kennen doch die Bedeutung des Wortes Barbar ?«
Im Audimax war ein Glucksen zu vernehmen, ein nervöses Lachen.
»Im Altgriechischen bedeutete Barbar nichts anderes als Fremder. Gemeint war damit jeder, der nicht Grieche war, insbesondere die Perser und die asiatischen Völker. In Europa eignete man sich das Wort an und benützte es für Nicht-Europäer. Zu Anfang hatte es jedoch keine negative Konnotation. So war die Auffassung der damaligen Zeit, doch inzwischen hat durch Vorurteile das Wort Barbar einen Bedeutungswandel erfahren. Und wie Sie alle wissen, wurden in diesem neuen Sinne des Wortes die größten Barbareien des 20. Jahrhunderts von europäischen beziehungsweise europäisch beeinflussten Zivilisationen begangen.«
Es war dem Professor anzumerken, dass er es gewöhnt war, vor größerem Publikum zu unterrichten. Wieder ließ er seine Blicke durch das Audimax schweifen und sprach dann weiter.
»Ich behaupte, dass sämtliche Völker und sämtliche Kulturen in Vorurteilen übereinander behaftet sind. Sollte es uns gelingen, aus dem Vokabular der europäischen Sprachen den Barbaren zu tilgen, dann können wir unser Ziel erreichen. Was für ein Ziel, werden Sie fragen; nun, meiner Ansicht nach liegt das Ziel in einer humanistischen Auffassung begründet, in der Religion, Nation, Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder politische Meinung nicht mehr Anlass zu irgendwelcher Diskriminierung geben.«
Es wurde geklatscht. Natürlich. Doch würde die Wirkung dieser Worte über den Augenblick hinaus anhalten? Bald
Weitere Kostenlose Bücher