Serum
Sohn.
Es entstand eine heikle Pause. »Abendessen gerne, Mike. Chris ist heute bei einem Freund. Aber es wäre keine gute Idee, wenn ich bleibe«, sagte sie. Das war die unausgesprochene Grenze unserer Beziehung, an die wir uns gegenseitig immer wieder erinnerten.
»Dann fahre ich dich nach Hause«, meinte ich.
»Du bist lieb. Ich bringe eine Flasche Pinot Noir mit. Vielleicht kommen wir dahinter, was mit dem Vorsitzenden passiert ist. Ich mache eine Liste aller ungewöhnlichen Vorfälle der letzten Wochen. Ich möchte, dass du an der Sache dranbleibst. Versprich mir das.«
»Das habe ich mir schon selbst versprochen.«
Zwei Tage später, als ich um mein Leben rannte, sollte ich dieses Versprechen noch bereuen.
Jetzt, während ich immer noch auf dem Weg zu Lenox’ Interimsvorsitzenden war, zirpte mein abhörsicheres Handy. Es war Hoot. Mein weiblicher Computer-Einstein hatte gerade einmal zehn Minuten gebraucht, um das Arzneimittelfläschchen zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen.
»Kleinigkeit«, meinte sie. »Es gehörte zu einer Partie, die innerhalb der Firma verteilt wurde. Die Aufzeichnungen zeigen nicht exakt, für welches Projekt das Fläschchen verwendet wurde, aber es ist eines von sechs. HF-104 bis HF-109.«
HF bedeutete »hausinternes Forschungsprojekt«, Studien, die von Lenox allein und ohne externe Partner, die Regierung, eine Universität oder eine andere Firma durchgeführt wurden. Lenox trug sämtliche Kosten, und der Profit wurde mit dem einzelnen Forscher geteilt, je nach Vertrag.
»Kannst du einen Ausdruck der einzelnen Projekte machen?«, fragte ich.
»Als ob ich daran nicht schon gedacht hätte!«
»Hoot, warum muss ich immer erst fragen?«
Sie schwieg einen Augenblick, ihre verhaltene Form der Rebellion gegen die Autorität. Ich hörte sie Mountain Dew schlürfen. Der folgende kleine Seufzer bedeutete, dass meine kleine Strafe dafür, ihre Brillanz nicht genügend gewürdigt zu haben, vorüber war.
»Von den sechs Projekten ging es bei den ersten dreien um Krebs. Eierstock. Prostata. Knochen. Die führt ein Labor in Long Island durch. Die Mittel für HF-107 gingen an einen Professor der NYU, der an Antidepressiva arbeitet. HR-108 ist ein Ethnobotaniker in Venezuela, der dort nach Heilpflanzen sucht. Augenkrankheiten.«
Ich erinnerte mich, dass das Zeug in dem Fläschchen so aussah, als stamme es von einer Pflanze.
»Das waren fünf Projekte. Du hast sechs gesagt«, meinte ich.
Ein Seufzen. »Tja, was auch immer HF-109 ist, die Aufzeichnungen – null Komma nichts – existieren höchstens in der Forschungsabteilung.«
»Was soll das heißen? Dass die Aufzeichnungen gelöscht wurden?«
Hoot lachte. »Vielleicht wurden sie nie eingegeben. Seit es Hacker wie mich gibt, speichert man Sachen, die man wirklich geheim halten möchte, nur auf Papier. Alle Computeraufzeichnungen über HF-109 wurden entweder gelöscht, gestohlen oder gesichert. Tja, was für ein unglaubliches, supermysteriöses Geheimprojekt ist HF-109 wohl, hm?«
3
D
er Anruf, der mein Leben veränderte – so dass ich beim FBI kündigte –, erreichte mich an einem Sonntagabend vor drei Jahren. Es war Ende Oktober, ein frischer Herbstabend, und ich kam gerade mit einer Freundin von einem Wochenendausflug in die Berkshires zurück.
Als ich sie zu Hause abgesetzt hatte und wieder in meinem damaligen Loft in Chelsea war, klingelte das Telefon. Es war eine weibliche Stimme: konfus, betrunken, verweint. Ich erkannte sie nicht, wohl aber den Akzent meiner Kindheit aus Devil’s Bay.
»Sie haben mir verboten anzurufen«, schluchzte sie.
»Wer hat das getan?«
»Sie meinten, ich soll die Sache ruhen lassen. Aber manche Leute zahlen ihr ganzes Leben lang für einen Fehler, während andere ungeschoren davonkommen, nicht wahr?«
»Das ist nicht recht so«, stimmte ich zu und griff nach einem Notizblock, in der Annahme, der Anruf hätte mit einem meiner Fälle zu tun.
»Du hast ihr Leben verhunzt, und jetzt ist sie tot.«
Sogar da dachte ich noch, es ginge um einen Fall. Schließlich verbringen FBI-Agenten ihr Leben damit, das Leben anderer Leute zu »verhunzen«, nämlich derjenigen, die sie verhaften. Vielleicht war jemand gestorben, den ich ins Gefängnis gebracht hatte. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Familienangehörige oder Lebenspartner in so einem Fall dem FBI die Schuld geben.
»Pam hätte schon vor Jahren anrufen sollen«, fuhr die Stimme fort. »Sie hätte dich nie damit durchkommen lassen dürfen.«
Bei
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