Serum
der Renovierung. Ich legte einen Gemüsegarten an, wie mein Vater. Eigentlich steckten zwei Persönlichkeiten in mir: der Mann, den die Öffentlichkeit kannte, voller Energie, beliebt, respektiert; und der andere, der weit genug in die Zukunft geblickt hat, um zu wissen, dass er bereits wieder auf dem Abstieg von den Gipfeln ist, die er einmal erklimmen wollte.
Ich war zu alt für die Liebe. Das akzeptierte ich damals für mich.
Aber manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich Eltern mit Kindern in Pauls Alter nachsah, im Auto, beim Einkaufen, im Stadion. Momentaufnahmen einer Zukunft, die nicht meine war.
Die Arbeit bei Lenox gefiel mir. Ich war dankbar, dass sie mich beschäftigte. Ich mochte die Querköpfe, mit denen ich arbeitete, wie Danny und Hoot.
Ich hatte James Dwyer gemocht, und nun war er tot.
Bill Keating ließ mich anderthalb Stunden warten, während er Anrufe von aufgeregten Aufsichtsratsmitgliedern, Großaktionären und leitenden Angestellten aus dem Ausland erledigte. Dwyer hätte mich gebeten, später wiederzukommen, wenn er zu beschäftigt war. Doch Keatings Führungsstil ließ einen keine Minute vergessen, wer der Boss war. Ich saß auf einer Couch und hielt mich telefonisch über verschiedene Projekte der Sicherheitsabteilung auf dem Laufenden. Ich überflog die Morgenausgabe der Times und las bestürzt, dass die Studentenproteste in Berkeley und an der University of Oregon in der Nacht gewaltsam niedergeschlagen worden waren, nachdem der neue Präsident vereidigt worden war und striktere Maßnahmen für die nationale Sicherheit angeordnet hatte. Die Etats für Sozialprogramme und Straßenbau sollten gekürzt werden. Das eingesparte Geld würde an die Polizei, die Einwanderungsbehörde, das Militär und den Heimatschutz fließen.
Ein Sprecher des Weißen Hauses wurde mit den Worten zitiert: »Ein neuer Präsident bedeutet neue Prioritäten.« Ich zuckte zusammen angesichts der Bilder von Menschenmengen, die von der Polizei unter Einsatz von Tränengas aufgelöst wurden, von anständigen jungen Leuten, zusammengepfercht in Gefangenentransportern.
»Tut mir leid, dass Sie warten mussten, Mike«, meinte Keating abgespannt, als ich endlich um elf vorgelassen wurde. Normalerweise wirkte er jungenhaft, doch jetzt, deprimiert und geschockt, sah er älter aus als seine 37 Jahre. Er war ein ehemaliger Universitäts-Ringerchampion und immer noch entsprechend gebaut, wurde an den Rändern aber langsam schwabbelig. Er hatte ein eckiges Gesicht mit hellbraunen Augen. Das dichte, bronzefarbene Haar war sorgfältig gekämmt. Gelegentlich fiel ihm eine Strähne in die Stirn, und dann warf er in einer unbewussten Bewegung den Kopf nach links, um sie wegzuschleudern.
»Ich habe gerade mit dem Polizeichef telefoniert. Sie sprechen von Selbstmord.«
Ich runzelte die Stirn. »So schnell?«
Keating überflog einen Bericht auf seinem Schreibtisch, so dass ich seine Augen nicht sehen konnte. »Sehr professionell, meine ich«, sagte er und bedeutete mir, mich zu setzen. »Anscheinend gab es keine ungewöhnlichen Umstände. Kein Grund also, etwas anderes zu vermuten. Und Mike, für Lenox ist es das Beste, wenn die Geschichte so schnell wie möglich wieder von den Titelseiten verschwindet.«
Ich berichtete Keating von der Liste, die ich gefunden hatte. »Das würde ich schon als ungewöhnlich bezeichnen.«
»Die Polizei ist anderer Auffassung. Er wollte also jemandem namens Mike eine ›Disk‹ zukommen lassen. Sind Sie das?«
»Falls ja, habe ich sie nie bekommen.«
Sein Blick wurde schärfer. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn sich etwas Neues ergibt. Ehrlich gesagt, diese Liste bezieht sich auf ein paar sensible Themen, die wir lieber geheim halten würden. Nicht Ihre Angelegenheit allerdings.« Er schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, warum Dwyer das getan hat.«
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht eine Ahnung, Sir.«
»Warum ich?«, fragte Keating und nahm sich einen Kaffee, ohne mir einen anzubieten. Es war ein geräumiges und sonniges Büro, aber typisch Lenox: schnörkellos. Darauf hatte Dwyer immer bestanden. Möbel aus Walnussholz. Taubenblauer Teppichboden. Funktionell und komfortabel. »Wir sind unseren Aktionären etwas schuldig«, pflegte Dwyer zu sagen. »Wenn Sie sich einen Degas ins Büro hängen wollen, kaufen Sie sich selber einen.«
»Tja«, meinte ich und beschloss, zu lügen und Kim aus der Sache herauszuhalten, »der Vorsitzende erwähnte gestern Nacht, dass er mit Ihnen und Tom
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