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Serum

Serum

Titel: Serum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Reiss
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nur, dass ich meine Trauer besiegen und mich in einen professionellen Ermittler verwandeln musste. Emotionen waren fehl am Platz in diesem Haus, wo ich oft mit Dwyer Schach gespielt, seinen politischen Tiraden gelauscht oder eine seiner kleinen Abendgesellschaften besucht hatte.
    Gott helfe diesem Land, wenn ich recht behalte.
    »Er ist im Arbeitszimmer«, sagte Aguinaldo hinter mir. Er klang elend und unglücklich. »Ich habe die Leiche gesehen, aber ich kann es trotzdem noch nicht glauben.«

2
    L
    assen Sie mich Ihnen ein wenig über die Pharmaindustrie erzählen. Im Jahr 2005 wurde mit legal verkauften Medikamenten allein in den Vereinigten Staaten ein Gewinn von über 118 Milliarden Dollar erwirtschaftet, gegenüber 99,5 Milliarden im Jahr 1998, 90 Milliarden ’97und 53 Milliarden nur vier Jahre zuvor. Wie mir der Vorsitzende einmal erklärte, erzielt ein durchschnittliches Fortune- 500-Unternehmen in einem guten Jahr einen Gewinnzuwachs von sieben Prozent, doch Lenox, Merck und Pfizer – unsere Pharmagiganten – erreichen mehr als das Doppelte.
    »Was bedeutet«, pflegte der Vorsitzende zu sagen, »dass es für uns so etwas wie ein schlechtes Jahr nicht gibt. Die Arzneimittelbranche ist das einträglichste Geschäft der Welt. Krebsraten sind unabhängig von der Wall Street. Die Menschen auf der ganzen Welt brauchen Medikamente gegen Arthritis, Malaria, Glaukom und die Grippe. Und dabei habe ich unsere profitabelsten Mittel noch gar nicht erwähnt.«
    »Lifestyle-Arzneien«, hatte er voll Stolz erläutert. »Prozac für die gute Laune. Viagra fürs Bett. Propecia für dichte, volle Locken. Pharmazeutika gestalten die Welt.«
    Tja, und jetzt hatten ihn unsere kleinen Profitbringer umgebracht, in seinem mahagonigetäfelten Büro, wo er zwischen verstreuten Pillenfläschchen unter den großen, unverwandt starrenden Augen seiner Vorfahren lag: General Francis Dwyer, der Lenox 1896 mit seinem Hustensaft gegründet hatte; Großvater Louis Dwyer, der die Firma internationalisierte; Dwyers Vater, der ihn gelehrt hatte, die Zügel nie aus der Hand zu geben.
    Stumme Zeugen. Wenn sie nur reden könnten. Dwyers Morgenmantel hatte sich geöffnet. Der purpurrote Seidenpyjama darunter war zerknüllt, das linke Hosenbein halb über die Wade hochgestreift. Seine hervorquellenden grünen Augen waren trüb. Die Füße blau angelaufen. Die Leiche lag halb auf dem russischen Webteppich, halb auf dem glänzenden Teakholzparkett. Sein Gesichtsausdruck war Zeugnis der Agonie seiner letzten Sekunden. Er hatte sich in die Zunge gebissen, und die Lippen waren von den blutbefleckten Zähnen zurückgezogen. Der leicht karottenfarbige Hautton wies vermutlich auf eines der Gifte hin, die ihn getötet hatten.
    Er wirkte wie eine Stoffpuppe, als hätte der Verlust des Willens ihn in einen formlosen Fleischklumpen verwandelt. Kein lebender Mensch konnte mit derart verrenkten Gliedern daliegen.
    Trotz der Klimaanlage – die der Vorsitzende im Sommer immer auf voller Kraft laufen ließ – war der Gestank fast unerträglich, nach Urin, Exkrementen und halbverdautem Essen, das vom Bücherregal herabtropfte und in einer Lache zusammengelaufen war, als hätte er es im Fallen quer durchs ganze Zimmer gespien.
    Ich hatte Mühe, mich nicht zu übergeben. Es war lange her, dass ich mit Leichen zu tun gehabt hatte. Seit Jahren schon war ich ein reiner Bürohengst, aber – ich streifte Latexhandschuhe über – ich erinnerte mich noch an die Grundregeln der Polizeiarbeit.
    Der Pyjama des Vorsitzenden Dwyer war nicht zerrissen, wie es bei einem Kampf wohl der Fall gewesen wäre. Gesicht und Arme wiesen keine Abschürfungen auf; keine zusätzlichen Gläser oder Tassen standen herum, die auf späte Gäste hinwiesen; die Möbel befanden sich alle an ihrem Platz; auf dem dicken Teppich gab es keine Fußabdrücke.
    Ich sah mir seine Fingerspitzen an. Keine abgebrochenen Nägel. Keine Verletzungen am Kopf. Ich suchte nach Prellungen und fand keine.
    Dann kam der Schreibtisch dran. Die Etiketten der Arzneimittelfläschchen, die dort und auf dem Boden lagen, listeten den tödlichen Mix von Chemikalien auf, der ihn vermutlich umgebracht hatte. Darunter ein Schlafmittel, das ihm laut Datum erst gestern verschrieben worden war. Da das gesamte Fläschchen leer war, musste er über dreißig Kapseln geschluckt und mit dem Scotch aus der leeren Flasche Dewar’s auf dem Schreibtisch hinuntergespült haben. Ich musste mich zwingen, die erbärmlich kurze Nachricht zu

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