Setz dich über alles weg
deutlich
anzumerken war. Er paffte unaufhörlich und hüllte jeden Bissen Essen in dicken
Rauchwolken ein. Er war charmant, freundlich und zweifellos eine der größten
Autoritäten auf seinem Gebiet, aber zumindest ebenso verrückt wie wir alle;
außerdem hatte er einen Gesichtstick.
»Haben Sie Ihre Arbeit bei Professor
Menninger zu Ende geführt?« fragte ich. Betty lächelte mir zu, als ihr Mann
sich anschickte, die heikle Frage mit vollendeter Gewandtheit zu umgehen. »Noch
nicht ganz, es fehlt noch ungefähr ein Drittel. Wahrscheinlich werde ich
Gelegenheit haben, die Abhandlung nächstes Jahr abzuschließen.« Sooft ich einem
Psychoanalytiker begegne, mache ich mich früher oder später an ihn heran und
frage ihn, ob er mit seiner Analyse fertig sei. In neun Fällen von zehn fehlt
ihm ungefähr ein Drittel, und er trägt sich mit der Absicht, die Arbeit
abzuschließen — irgendwann in der allernächsten Zukunft! Es scheint den Herren
genauso zu ergehen wie uns, wenn wir unseren Charme zu entwickeln versuchen —
wir machen zwar Fortschritte, aber das Ideal bleibt eine Fata Morgana.
Betty mischte sich ein. »Ich kann ihm
seine Analyse ohne weiteres zu Ende führen. Wenn er mit dem vielen Rauchen
aufhören, angeln gehen und sich nicht immerzu nur mit Verrückten abgeben würde
— würde er sich wohl fühlen. Er watet ständig in einem Morast und sieht alles
verzerrt. Er braucht das, was jeder normale Mensch braucht — frische Luft,
Sonne und vierzehn Tage in einer Fabrik. Dort gibt es keine Komplikationen. Ein
bißchen arbeiten, viel meckern und hinter jedem Rock her sein. Vitaminmangel —
nicht mehr und nicht weniger!«
Die versammelten Arztfrauen brachen in
höhnisches Gelächter aus. Vitaminmangel! Fast einmütig erzählten sie ihre
eigenen Leidensgeschichten. Ischias, Migräne, nervöse Verdauungsbeschwerden,
Bursitis, Ekzeme — und das soll alles nur die Avitaminose sein! O nein, uns
fehlte die psychosomatische Medizin!
Nach dem Essen begab sich Dorothy mit
ihrem kleinen muskulösen Körper zu Dr. Randolph, um von ihm etwas Seelenbalsam
zu erbetteln.
»Könnte mein Ischias nicht
psychosomatischen Charakter haben? Ich habe so gut wie mein ganzes Leben im
Freien verbracht, und jetzt kann ich überhaupt nicht mehr auf dem Rücken
liegen. Empfehlen Sie mir ja kein Vitamin B! Ich kann keine Vitamin-B-Tabletten
mehr sehen.«
Die lockenden Töne von Chopins zweitem
Klavierkonzert erfüllten die milde Frühlingsnacht. Von allen Seiten stieg einem
der Duft der Nelken, der Lilien und der feuchten Erde in die Nase.
»Eine wunderbare Gegend!« Dr. Randolph
atmete tief. »Laufen Sie Ski, Dorothy! Wissen Sie, die mühelose Exaktheit einer
sportlichen Leistung erinnert mich an ein Konzert. Der stolze Hintergrund der
Berge und der lieblich-atemlose Schwung — es ist wie eine meisterhaft
durchgeführte Kadenz!«
Dorothy stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Wie soll ich denn Skilaufen, wenn mir die ganze Zeit die Kinder am Rockzipfel
hängen?« Das Bild, das sie von sich selber schuf, rührte sie fast zu Tränen.
»Nehmen Sie die Kinder mit! Lassen Sie
sie zusehen! Sie werden dann die poetische, die schöpferische Seite ihrer
Mutter kennenlernen. Das sind Sie Ihren Kindern schuldig. Sie werden ihnen
nicht nur ein sicherer Hafen, sondern auch ein beschwingtes Vorbild sein!«
Dorothy lauschte mit leuchtenden Augen,
während man Bill den ängstlichen Ehemann ansah.
Dr. Randolph wandte sich mir zu: »Mary,
finden Sie, daß sich Ihre erstaunliche Vitalität in der simplen Hausarbeit genügend
entfalten kann?«
Ich erwiderte, die ›simple Hausarbeit«,
wie er sich so wunderlich auszudrücken beliebte, erfordere vierundzwanzig
Stunden unermüdlicher Plackerei, um in der Tretmühle auch nur auf demselben Fleck
zu bleiben. Von ihm zum Beispiel verlange man auch nicht, er solle Anwalt sein,
Verkäufer, Einkaufschef und Buchhalter, ganz zu schweigen von hunderterlei
charmanten Eigenschaften, die er ;ich noch außerdem seiner Umgebung zuliebe
anzuschaffen hätte...
Die ganze Woche lang wurden die
Randolphs mit Einladungen überhäuft, und die Herren Doktoren vergaßen zu
protestieren oder sich medizinische Zusammenkünfte auszudenken. Als
Abschiedsgeschenk erhielt Faith Schönbergs ›Verklärte Nacht«, Maggie Debussys
«Nachmittag eines Fauns«, Dorothy die «Alpensymphonie« und ich Khatschaturians
«Konzert für Klavier und Orchester«.
In den darauffolgenden Tagen machten
sich allerlei psychische Nachwirkungen
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